Muss ich mich dem Ritual beugen? Gehört Schach zum gepflegten Abend?
Kennen Sie das? Sie haben Besuch, gebildet, kultiviert. Das selbst gekochte Essen mit drei Gängen (Suppe, Wildgericht, Crème brûlée) ist gegessen, die Rotweinflasche zur Hälfte leer, und das akademische Gegenüber schlägt eine Partie Schach vor. Schweißausbruch. „Klar, aber ich spiele nicht gut. Nur so zum Hausgebrauch.“ „Ich doch auch, links oder rechts?“ Ohne, dass Sie es wollten, hat der Gast schon je einen Bauern in die Hand genommen. Sie müssen aussuchen. Das Elend nimmt seinen Lauf.
Aus einer zivilisierten Einladung ist Krieg geworden. Klar, denn das Schachspiel simuliert einen Krieg. Einst war es eine ritterliche Tugend, das Spiel zu beherrschen, eine von sieben übrigens. Aber nun, da wir fast alle Ritter geworden sind und sogar ungleich bequemer leben als diese, und auch ohne die bescheuerten Namen – Gott sei Dank! – nun, da muss jeder mal ein wenig Feldherr sein. Jeder mit Abitur, mit Studienabschluss, versteht sich. Als promovierter Militärhistoriker habe ich erst recht keine Ausrede. Argh!
Ich finde Schach wirklich nervig, denn meine Schachkarriere war extrem langweilig. Erst setzte mein Vater mich in jedem Spiel schachmatt. Dann, nach seinem Schlaganfall, hielt seine Konzentration höchstens zehn Minuten, und ich gewann jede Partie. Schließlich musste ich nur die ersten Züge überleben, dann die Dame in Bedrängnis bringen, und irgendwann war das Spiel vorbei. Damit ist fast alles gesagt. Schach eignet sich für das Austragen der Konkurrenz zwischen Vätern und Söhnen, ein Dauerthema der Menschheit.
Was ist das überhaupt, Schach? Eigentlich ein sehr kluges Spiel. Bauern, Türme, Pferdchen, Läufer, Dame und König dürfen klar begrenzte Züge unternehmen. Mir gefällt, dass die Dame die mächtigste Spielfigur ist. Der König ist impotent, er eignet sich kaum zum Bedrohen des Gegners. Er ärgert mich zutiefst. Ständig muss ich ihn schützen, aber Angriffspotenzial? Fast null. Und wozu das Ganze?
Diese Welt wäre ein gutes Stück besser, ließen Bildungsbürger ihren Status nicht ständig dadurch raushängen, dass sie miteinander ein Spiel spielen, das der eine Teil von uns nicht beherrscht und der andere Teil nicht mag. Der wahre Krieg im Schach ist ein ganz anderer. Vergessen Sie billige Analogien! Einen heutigen, asymmetrischen Krieg mit Cyberpropaganda und Troll-armee gewinnen Sie doch nicht mit den Methoden eines genialen Brettspiels.
Nein, der Krieg beim Schach verläuft entlang einer ganz anderen Frontlinie. Die Frage ist, ob ich mich dem Ritual beugen muss, ob das Schachspiel zum gepflegten Abend dazugehören muss. Oder ob ich mich dem verweigern darf. Ob ich immer noch Ritter sein muss oder ob ich auch als bürgerlicher Post-Ritter noch die Chance habe, auch ohne Schach in höflicher Gesellschaft zu bestehen.
So habe ich es mir zumindest vorgenommen. Daraufhin war ich naiv genug, eine Einladung an einen Arbeitskollegen auszusprechen. Ich habe brav gekocht, es gab Ente, Rotkohl und selbstgemachte Spätzle. Der Abend verlief wunderbar, das Gespräch war angenehm, wir verstanden uns blendend. Bis zu diesem Moment. Bis zu dem Moment, ja nun, Sie ahnen es, als der Besuch fragte… „Weiß oder Schwarz?“ Unsere Freundschaft ist gekündigt. Ich habe keinen Vater-Komplex. Ich bin weder Ödipus noch Luke Skywalker. Spielt Euer Spiel doch einfach ohne mich.