Der Sport ist durch die Corona-Pandemie praktisch vollständig zum Stillstand gekommen. Die Profis suchen in der Pause Ablenkung auf virtuellen Fußballplätzen, Basketball-Courts und Rennstrecken Ablenkung und verschaffen dem eSport damit eine große Bühne.
Das Coronavirus hat das System Sport in den vergangenen Wochen rund um den Globus faktisch komplett lahmgelegt. Für zahlreiche Vereine und Verbände sind die Dimensionen der Krise längst existenzbedrohend, für die ambitionierte eSport-Branche allerdings ist der Shutdown der Öffentlichkeit eine lang herbeigesehnte Gelegenheit. Eine Chance nämlich auf Herstellung zusätzlicher Aufmerksamkeit und vor allem auf schon vor den Zeiten der Pandemie immer nachdrücklicher eingeforderte Anerkennung.
Virtuelle Sportwettwerbe haben jedenfalls mitten im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stillstand buchstäblich Hochkonjunktur. Allen voran natürlich wieder der Fußball mit Fifa 20, aber auch natürlich der Szene-Hit League of Legends (LoL) in seiner eigenen Liga oder die Formel 1 mit virtuellen Grand-Prix-Rennen, die Basketballer mit NBA2K oder auch die Radsportler mit täuschend echt wirkenden Klassikern – auch und gerade in Zeiten von Quarantäne und Kontaktbeschränkungen zocken Freaks wie Profis aus der realen Sportwelt gleichermaßen auf der Playstation oder Xbox an der heimischen Konsole. Passend zum digitalen Umfeld ihres millionenschweren Geschäfts haben Games-Betreiber und Turnier-Veranstalter sich auf die veränderten Rahmenbedingungen eingestellt und Voraussetzungen zur Durchführung ihrer Wettbewerbe im Online-Modus geschaffen.
Milliardenschweren Sorgen um ihre Kerngeschäfte zum Trotz fanden prompt auch Platzhirsche des analogen Sports noch Kapazitäten zur Entwicklung von Möglichkeiten zur Teilhabe am lange schon profitablen digitalen Business mit Game Controllern und Gaming Mouses. Die Deutsche Fußball Liga (DFL) fühlte sich schon nach den ersten Ausfällen zur Ausrufung der sogenannten Bundesliga Home Challenge bemüßigt und stilisierte die virtuellen Spiele mit zockbegeisterten Spielern ihrer zwangspausierenden Profi-Clubs gleich auch marktschreierisch zum quasi-offiziellen Ersatz für den real ausfallenden Kampf um Tore, Punkte, Meisterschaft hoch.
Wie die DFL suggerierte etwa auch die Formel 1 ihren Fans vermeintliche Entzugserscheinungen: Die Königsklasse des Automobilsports sagte der erzwungenen Langeweile von Menschen in aller Welt den Kampf an und wagte sich nach den Absagen ihrer ersten Saisonrennen auch mit Unterstützung spielbegeisterter Star-Piloten wie Sebastian Vettels Ferrari-Konkurrent Charles Leclerc hochoffiziell an ein Experiment mit Rennen auf den virtuellen Strecken ihrer ausgefallenen Grand-Prix-Läufe heran. Die Marketing-Genies der nordamerikanischen Basketball-Profiliga NBA schickten zahlreiche Stars in ein offiziell sanktioniertes Simulations-Turnier. 13 Radprofis trugen die Flandern-Rundfahrt in den eigenen vier Wänden aus und kämpften auf Heimtrainern virtuell auf den letzten 32 Kilometern der Originalstrecke um den imaginären Sieg bei dem renommierten Frühjahrsklassiker.
eSport als künftige Einnahmequelle?
Die Masche zieht offenbar. TV-Sender übertragen die eigens geschaffenen Events für ein breites Publikum, im Internet verfolgen noch jüngere Generationen die nicht einmal klassischen eSport-Wettbewerbe auf einschlägigen Plattformen in durchaus erstaunlicher Anzahl. 1,5 Millionen Zuschauer bei einem „VirtualGP" der Formel 1 bedeuteten eine bemerkenswerte Reichweiten-Hausnummer.
Der eSport sei an vielen Stellen noch als Marketing-Aktivität daneben recht stiefmütterlich behandelt worden, sagte Geschäftsführer Ralf Reichert vom Turnier-Veranstalter ESL Ende März in einem Interview zu der Entwicklung. Es ist nicht weit entfernt vom klassischen Sport, deswegen ist es für jeden klassischen Sport eine riesige Chance, um dort in einer deutlich jüngeren Zielgruppe neue Fans zu generieren. Diese Chance musste man vorher schon viel mehr nutzen, und jetzt wird es bestimmt viel mehr beschleunigt".
Ganz eindeutig sehen die eSport-Manager die Corona-Krise als lang vergeblich gesuchten Hebel zum Eintritt in den Markt des klassischen Sports. „Wir sind nicht da, um zu sagen, dass wir viel geiler sind als der klassische Sport. Unser Ansatz ist, den klassischen Sport in der Rolle, in der wir jetzt sind, zu umarmen und Möglichkeiten zu bieten, die digitale Welt zu verfolgen. Wir sind mit vielen Sportarten in Gesprächen, wie wir helfen können, eSport-Wettbewerbe aufzusetzen", berichtet Reichert über Bemühungen des Establishments gegen den im Zuge des Lockdowns wachsenden Verlust an Stellenwert in der öffentlichen Wahrnehmung.
Die Newcomer-Branche blickt denn auch der vermutlich nur schrittweise beginnenden Zukunft nach Corona noch zuversichtlicher als ohnehin schon entgegen. „Wir haben den großen Vorteil, dass wir Turniere und Ligen auch online spielen können. The show must go on und The show can go on. Daher sind wir in einer herausragend glücklichen Rolle und dadurch auch einen Tick hoffnungsvoller als in manch anderer Industrie", sagt Reichert.
Neue Potenziale für den klassischen Sport
Gestützt auf die Erfahrungen der vergangenen Wochen und bei allem Understatement logischerweise mit einer gehörigen Portion Eigeninteresse streben Reichert und seine Mitstreiter einen Ausbau der neu geschlagenen Brücken ihres Geschäfts in die Welt des echten Sports an. Die momentan schwierigen Zeiten, meint Reichert, seien „für den klassischen Sport auch eine echte Chance, die digitale noch aggressiver zu umarmen als in der Vergangenheit". Geht das Kalkül auf, erhoffen sich die Gamer eine Win-win-Situation. Denn einerseits könnten für den klassischen Sport neue Marketing-Potenziale entstehen, und andererseits würde das Image des eSports aufpoliert und langfristig seine Akzeptanz als „echter" Sport steigen.
Der Kampf der Branche um eine Verankerung in der Gesellschaft ist selbstverständlich auch einer um Geld. Erhalten LoL, Fifa 20 und Co. die wichtigen Gütesiegel maßgeblicher Dachorganisationen wie des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), des Fußball-Weltverbandes Fifa oder hierzulande auch nur des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), hätten die Macher Zugang zu noch kräftiger sprudelnden Finanzquellen. Reicherts Firma sieht ihren Wirtschaftszweig grundsätzlich „auf einem guten Weg dahin", wie ESL-Sprecher Christopher Flato schon Ende vergangenen Jahres sagte: „Politik und Medien sprechen darüber. Auch der demografische Wandel spielt uns in die Hände. Alle, die nachwachsen, sind mit dem digitalen Wandel vertraut. Plattformen wie Twitch oder Youtube sind in der Jugendkultur verankert, und da ist der Schritt zum eSport nicht mehr weit."
Die Machtzentren des Sports sehen das allerdings höchst unterschiedlich. Das IOC etwa zeigt sich in seinen Bemühungen um eine auch künftig zeitgemäße Erscheinung seiner Spiele zumindest aufgeschlossen. Die Herren der Ringe teilten Ende 2019 nach einer Konferenz mit, in Sportsimulationen wie Fifa 20 „großes Potenzial für Kooperationen und die Einbindung in die Sportbewegung" zu sehen. Der DOSB hingegen lehnt jegliche Öffnung weiter kategorisch ab: „Sport ist", beruft sich der Verband auf ein Rechtsgutachten, „durch die langjährige Rechtsprechung im traditionellen Sinne der Anforderungen an die Körperlichkeit konkretisiert."
Front der Gegner bröckelt
Doch die Front der eSport-Gegner auf nationaler Ebene bröckelt bereits. Der potenzielle Olympia-Kandidat Rhein-Ruhr singt im Sinne seiner Bewerbung um die Sommerspiele bereits das Lied des IOC und besorgt den „Zockern" damit das Geschäft. „Die Dynamik im eSport", erklärte der nordrhein-westfälische Staatskanzlei-Chef Nathanael Liminski schon, „ist gigantisch. Ich vernehme, dass es vielfach Unterstützung dafür gibt, dass die olympische Idee auch im eSport ausgelebt werden soll."
Liminskis Aussagen sind auch mehr als nur warme Worte: NRW fördert eSportler bereits jährlich mit 200.000 Euro.