Dr. Susanne Winter ist Programmleiterin Wald bei der Umweltschutzorganisation WWF. Im Interview spricht sie über den Zustand des Waldes weltweit und hierzulande, was den Bäumen am meisten schadet und wie auch der Einzelne dem Wald helfen kann.
Frau Dr. Winter, ganz offen gefragt: Wie steht es denn um unseren Wald?
Ich würde da zwei Blicke drauf werfen, einmal auf die Situation weltweit und einmal auf Deutschland. Weltweit verlieren wir pro Jahr extrem viel Wald. Fast so viel wie wir in Deutschland überhaupt haben. Der Verlust beträgt etwas neun Millionen Hektar, in Deutschland haben wir 10,8. Das bedeutet, wir haben einen gigantischen Waldverlust. Und im Naturwald der noch da ist haben wir zusätzlich großflächige Qualitätsverluste.
Mit welchen Folgen?
Der Wald verliert seine biologische Vielfalt, und sein Kohlenstoffspeicher wird kleiner. Seine Fähigkeit, sauberes Grundwasser zu liefern und dem Klimaschutz zu dienen, wird zudem geringer. Was wir sehr stark verlieren, sind die Urwälder –
vor allem in den Tropen. In Brasilien sind die Brände abgeklungen, aber die Gefahr für weitere Feuer steigt schon wieder an, weil es jetzt wieder trockener wird. Megabrände, wie die in Australien, können nur durch Witterungswechsel beendet werden oder laufen sich zum Beispiel an der Küste tot. Löschen kann man sie kaum. Die Urwälder schrumpfen also durch Feuer, Holznutzung oder durch die Umwandlung in landwirtschaftliche Flächen. Damit verbunden schwindet auch die biologische Vielfalt.
Wie verändert sich die Waldfläche in Deutschland?
Anhand der Daten der Bundeswaldinventuren. 2001/02 und zuletzt 2011/12 kann hochgerechnet werden, dass der Wald ungefähr gleich geblieben ist. Wir haben sogar 50.000 Hektar mehr Wald.
Warum ist das so?
Wir haben ein Waldgesetz in Deutschland, dass die Waldfläche schützt. Wenn Wald zum Beispiel für Bauprojekte gerodet wird, muss er woanders wieder aufgeforstet werden. Dadurch haben wir eine sehr hohe Konstanz der Waldfläche. Das haben andere Länder nicht.
Wie ist der Trend? Wird es so bleiben?
Weltweit nehmen Qualität und Fläche ab. Die deutlichsten Waldverluste haben wir in systemrelevanten Bereichen: im Amazonasbecken und im Kongobecken – wenn wir da Wald verlieren, ist das für das Klimasystem und den Erhalt der biologischen Vielfalt höchst relevant. Wir haben dort Abnahmen, die nicht auszugleichen sind. Es gibt aber auch Bereiche, etwa in Asien, da sind die Urwälder schon überwiegend und mit vielen negativen Auswirkungen weg. In Deutschland wird die Waldfläche hingegen relativ konstant bleiben. Allerdings könnten die Schäden zunehmen.
In welcher Form?
Die Verbreitung von Borkenkäfern, die vor allem den Fichten den Garaus machen, kann noch größer werden. Es gibt zudem viele sich ausbreitende Baumkrankheiten. Solange ein System widerstandsfähig ist, ist das nicht so schlimm. Wenn wir aber davon ausgehen, dass die Witterungsextreme so weitergehen, werden die Bäume geschwächt, und die Krankheiten können sich ausbreiten. Es ist wichtig zu wissen, dass die Klimatologen mehr Extreme vorhersagen, das heißt, dass es zeitweilig wieder viel feuchter werden kann und auch mit Überschwemmungen zu rechnen ist. Krankheiten reagieren auf gestresste Waldökosysteme.
Krankheiten, Feuer, Schädlinge – was schadet dem Wald letztlich am meisten?
Am allermeisten schadet ihm die Veränderung der Landschaft. In Deutschland ist sie in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten ganz massiv entwässert worden. Wir haben den Wald sehr stark fragmentiert und unglaublich viel Stickstoff in die Luft geblasen. Diese Veränderung der Landschaft führt dazu, dass der Wald heute ganz anders leben muss. In Niedersachsen hatten wir bis zu zwei Millionen Hektar Niedermoore. Die sind bis auf winzige Reste alle weg. In Nordbrandenburg, wo die Wälder voller kleiner Waldmoore sind, wurde ebenfalls viel entwässert. Und in vielen Bundesländern ist die Landschaft voller Grabensysteme, die Wasser abführen. Wenn das Wasser mal da ist, wird es über die Gräben abgeleitet. Wir müssen das Wasser ganz bewusst zurückhalten, um mehr Verdunstungsfeuchte und Grundwasser in der Landschaft zu halten. Damit würden wir viel für den Wald gewinnen.
Wir haben zusätzlich einen sehr hohen Verbiss durch unsere Wildbestände. Junge Bäume können dadurch schlechter aufwachsen – dabei sind sie nötig für die Kühlung und als Kohlenstoffspeicher. Und dann ist da noch unsere Holznutzung, die auf Kante genäht ist. Wir lassen zu wenig Holz im Wald. Für Höhlen und ihre vielfältigen Bewohner und zur Stärkung der Gegenspieler von Schadinsekten.
Es schadet außerdem der immer noch sehr hohe unnatürliche Nadelholzanteil.
Weshalb schaden Nadelbäume denn dem Wald?
Nadelbäume kühlen den Wald im Sommer viel weniger als Laubbäume. Und es gibt weniger Grundwasserneubildung unter Nadelbäumen. Deshalb sollte der Anteil von Laubbäumen noch deutlich erhöht werden.
Wie kann jeder Einzelne dem Wald helfen?
Indem wir den Holzverbrauch reduzieren und auf landwirtschaftliche Produkte verzichten, die mit Waldzerstörung verbunden sind – wie teilweise Sojaimporte aus Brasilien.
Also weniger häufig den Kamin anwerfen?
Das auch. Fast 50 Prozent des Holzes, das wir verwenden, ist Brennholz. Den Kamin sollte man also bitte nur anmachen, wenn man die Heizung ausmacht. Wir sollten unseren Ressourcenverbrauch verringern. Wir haben uns im WWF Feuerholz und Grillkohle genauer angeschaut. Da ist sehr viel Urwald aus Nigeria drin, einem der Länder mit dem größten Waldverlust. Die nach Deutschland importierte Entwaldung über Produkte sollte aufhören. Aber dem Einzelnen sollte nicht die Bürde der täglichen Entscheidung aufgebunden werden. Die Politik muss einen verlässlichen gesetzlichen Rahmen setzen. Neben Feuerholz sind Papier und Pappe die nächsten Verbrauchsposten, die deutlich reduziert werden müssen. Hier finde ich es sehr wichtig, dass wir uns folgenden Vergleich vergegenwärtigen: Wir verbrauchen in Deutschland so viel Papier wie in Afrika und Südamerika zusammen!
Das ist ja kaum zu glauben …
… aber wahr. Der Papier- und Pappeverbrauch in Deutschland ist exorbitant hoch. Eine Vielzahl geht in Werbebeilagen und das Bestellwesen. Unsere Wünsche sind heute sehr individuell, und diese können wir uns durch viele einzelne Bestellungen im Internet erfüllen. Jede dieser Bestellungen benötigt Verpackung für den Versand. Klar haben wir eine hohe Recyclingquote, aber man kann nicht alles aus recycelten Materialien herstellen. Man könnte statt Bestellungen zu machen, also vielleicht, wenn die Läden wieder geöffnet werden, einfach mal in den Laden gehen.
Gibt es weitere Maßnahmen, vielleicht auch größer gedacht?
Man sollte die Entwässerung der Landschaft stoppen. Wir brauchen eine Wiedervernässung der Moorflächen. Wir brauchen noch mehr Laubholz, weniger Zerschneidung der Wälder etwa durch Transportwege oder Windräder, weniger Wild, viel mehr Totholz, das sind so Faktoren, die deutschlandweit angepackt werden können. Gerade Totholz kann auch im Wirtschaftswald vermehrt werden.
Sie hatten noch mal die Laubbäume angesprochen. Wie hat der Wald sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert, wenn wir den Anteil der Baumarten betrachten?
Heute haben wir 43 Prozent Laubbäume und 54 Prozent Nadelbäume. Durch die Anpflanzungen nach dem Zweiten Weltkrieg hatten wir in den letzten Jahrzehnten einen noch deutlich höheren Anteil an Nadelbäumen.
Warum?
Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg sehr viele Reparationszahlungen. Und dazu wurden Millionen Kubikmeter Holz an die Siegermächte geliefert. Aufgeforstet hat man den Wald dann vor allem mit Nadelholz. Mit dem Waldumbau Richtung Laubwald sind wir derzeit auf dem richtigen Weg – doch könnte er schneller erfolgen. Ein generelles Problem ist, dass unsere Holzverarbeitung auf Fichten und Kiefern eingestellt ist.
Nicht auf die so berühmte deutsche Eiche?
Die Eiche macht nur zehn Prozent der Bäume im Wald aus. 25 Prozent sind Fichten, 22 Prozent Kiefern, 15 Prozent Buchen und dann kommt erst die Eiche.
Welche Bäume sind am widerstandsfähigsten?
Die Arten haben eine ganz große Variationsbreite. Man muss immer fragen, wofür sie am widerstandsfähigsten sein sollen. Für Hitze sind es andere Baumarten als für Überschwemmungen. Wir haben uns mal Gedanken darüber gemacht, welche Baumarten am besten an alle Klimaextreme gleichzeitig angepasst sind. Wissen Sie, welche das sind?
Verraten Sie es mir!
Weidenarten, die wirtschaftlich völlig uninteressant sind. Damit flechten wir höchstens Weidenkörbe, weil die Zweige so schön elastisch sein können. Sie können lang im Trockenen stehen, aber auch überschwemmt werden. Die Bäume, die in Extremsituationen am widerstandsfähigsten sind, sind jene, die wirtschaftlich eher uninteressant sind.
Beobachten Sie ein Artensterben im Wald?
Bei den Baumarten selbst ist es nicht so weit, dass Arten in Deutschland wegen des Klimawandels aussterben. Die Schwarzpappel ist wegen des Lebensraumverlustes in Deutschland bedroht. Sie kommt nur in ganz wenigen naturnäheren Bereichen von Auenlandschaften noch vor. Und auch durch die Begradigung unserer Flüsse und den Verlust von Auen ist die Schwarzpappel bedroht. Durch die große Trockenheit in den letzten zwei Sommern sind auch Buchen abgestorben. Am schlimmsten hat es aber die Fichten getroffen. Aber dadurch stirbt in Deutschland derzeit keine Baumart aus. Sorgen bereiten uns hingegen die vielen gefährdeten Arten, die auf der Roten Liste stehen. Wir haben Hunderte von Wald-Moosarten, die gefährdet sind. Häufig ist das damit verbunden, dass besondere Habitate im Wald verschwinden. Das gleiche sehen wir bei den Flechten. Und dann sind da holzbewohnende Käfer die zu wenig Lebensraum im Wald finden.
Es gibt auch ein Beispiel unter den Vögeln: der Weißrückenspecht. Den gab es früher an vielen Stellen in Deutschland. Er braucht großräumig viel Totholz, stehendes wie liegendes. Seitdem es in den Wäldern nicht mehr genügend Totholz gibt, lebt der Specht auch nicht mehr hier.
Wie sieht die Zukunft für unseren Wald aus? Werden wir ihn erhalten können?
Ich denke, die Zukunft kennen wir wirklich nicht. Wir tendieren dazu, ein sehr lineares Denken zu haben. Die Vorhersagen der Klimatologen sagen nicht, dass es in Zukunft nur noch trocken und heiß sein wird. Sie sagen, die Extreme werden stärker. Man kann in Szenarien mögliche Klimaveränderungen berechnen, aber die sind nicht das, was letztlich eintritt. Letztes Jahr war es etwa so heiß, dass Blumen im eigenen Garten durch die Hitze kollabiert sind. Hitzetod! Das sind neue Faktoren, von denen wir im Moment noch nicht wissen, wie stark das unsere Umwelt verändert. Vielleicht kommt es aber ganz anders, wenn wir das Pariser Abkommen global doch noch einhalten und die Erderwärmung auf maximal 1,5 Grad zusätzlich beschränken können. Wir haben viele Handlungsoptionen, deshalb ist es Unsinn, jetzt Vorhersagen zu machen. Wir haben eine gewisse Chance, wenn wir das Klimaabkommen einhalten, dass die Folgen des Klimawandels deutlich abgeschwächt werden. Die Politik muss jetzt sehr schnell und konsequent handeln und den Klimaschutz gewährleisten.