Obwohl Darts auf dem Papier ein geschlechtsneutraler Sport ist, war es bislang eine reine Männerdomäne. Doch die ersten Frauen ziehen nun auch viel Aufmerksamkeit auf sich.
Der Sport steht in der Corona-Krise auf der ganzen Welt größtenteils still, aber es gibt Ausnahmen. Dafür braucht es nicht zwingend einen diktatorisch auftretenden Staatspräsidenten wie Alexander Lukaschenko, der in Weißrussland weiter Fußballspiele vor Zuschauern erlaubt, weil das Coronavirus seiner Meinung nach eine „Psychose des Westens" ist. Es hilft auch ein cleveres Konzept. Der Profi-Dartsverband PDC zum Beispiel, der wie die meisten anderen Verbände auch seine öffentlichen Wettkämpfe seit März aussetzen muss, lässt seine Stars inzwischen in der PDC Home Tour gegeneinander antreten. Der Clou daran: Die Darts-Profis werfen in ihren Wohnzimmern auf die Scheibe und gewähren damit einen charmanten Einblick in das, was Fans sonst nie zu sehen bekommen hätten.
Bei dem Online-Turnier aus dem Homeoffice kämpften 128 Spieler zunächst in 32 Vierer-Gruppen um den Sieg, einzig Ex-Weltmeister Gary Anderson musste absagen, weil seine heimische Internetleitung dem Livestreaming nicht gewachsen ist. Als einzige Frau in dem topbesetzten Feld war Lisa Ashton an den Start gegangen. Die 49-jährige Engländerin wurde in ihrer Gruppe von den Wettbüros zwar als Außenseiterin gehandelt, doch unterschätzt wurde sie von ihren männlichen Kollegen sicher nicht mehr. Dafür war ihr Erfolg bei der Q-School in Wigan, als sich die viermalige Frauenweltmeisterin eine der begehrten 19 PDC-Tourkarten gesichert hatte, zu beachtlich. „Ich kann es kaum glauben, aber ich habe eine PDC-Tourkarte gewonnen", schrieb Ashton hinterher bei Twitter. „The Lancashire Rose", wie Ashton genannt wird, freute sich „auf die kommenden zwei Jahre".
Vor Ashton hatten schon die weiblichen Darts-Spielerinnen Fallon Sherrock und Mikuru Suzuki in der Szene für Aufsehen gesorgt. Die Britin Sherrock hatte sich mit zwei WM-Siegen gegen Landsmann Ted Evetts (3:2) und den Österreicher Mensur Suljovic (3:1) in den Geschichtsbüchern verewigt und einen regelrechten Hype ausgelöst. Die Japanerin Suzuki hatte einen historischen WM-Sieg zuvor gegen James Richardson (2:3) nur hauchdünn verpasst – und dennoch die Herzen der neutralen Fans im Alexandra Palace, auch „Ally Pally" genannt, in London erobert. „So viele Menschen haben mich angefeuert, das macht mich wirklich glücklich", sagte Suzuki (37) hinterher. Und sie versprach: „Ich werde wiederkommen."
„So viele Menschen haben mich angefeuert"
Noch größer war jedoch der Eindruck, den Sherrock bei der WM im vergangenen Dezember hinterlassen hat. Die alleinerziehende Mutter konnte ihre zwei Siege quasi vergolden, wegen ihrer Popularität wurde sie mit Wildcards umgarnt. Die gelernte Friseurin aus Milton Keynes konnte – zumindest bis zur Corona-Krise – in der Männerdomäne Darts ihren Lebensunterhalt mit dem Pfeilewerfen verdienen. Was für ein Sportmärchen! „Ich hätte nicht gedacht, dass es so irre werden würde", sagt Sherrock rückblickend. Finanziell hat sich die „Palast-Revolution" im „Ally Pally" für die Britin gelohnt. Weniger wegen der 25.000 Pfund Preisgeld, sondern vielmehr wegen der darauffolgenden Werbeverträge und Einladungen zu Show-Turnieren. In der an Charakteren nun wahrlich nicht armen Darts-Szene stieg die 25-jährige Sherrock zu einem Star auf. „Ihre Siege sind Weltnachrichten statt Sportnachrichten geworden", sagte der PDC-Vorsitzende Barry Hearn, „das hat mich ein bisschen überrascht."
Nicht wenige hatten den Weltverband für seine zwei WM-Quotenplätze an Sherrock und Suzuki kritisiert, weil das angeblich nicht dem Leistungsgedanken entspräche. Darts-Caller Gordon Shumway zum Beispiel äußerte in der „FAZ" unmissverständlich: „Ich finde es auch in diesem Jahr eine lächerliche Zirkusnummer, dass man zwei Wildcards für die WM reserviert." Shumway, früher selbst Darts-Spieler, hatte zuvor wegen einer ähnlichen Einlassung zum Thema „Darts und Frauen" seinen Job als Sport1-Experte verloren. „Wenn man den Damen eine Plattform geben möchte, dann kann man das anderweitig tun und ihnen eine eigene Turnierserie geben. Bei Bayern München spielt auch keine Frau im Team", hatte Shumway gesagt und damit einen Shitstorm im Internet ausgelöst.
„Ich finde es eine lächerliche Zirkusnummer"
Vor zehn Jahren hatte die Russin Anastassija Dombromyslowa einmal beim Grand Slam of Darts gegen Vincent van der Voort gewonnen – und das Fernsehen übertrug die Partie live. Noch Jahre später musste sich van der Voort Frotzeleien seiner Kollegen anhören. Darts hat sich nur langsam der Emanzipation geöffnet, obwohl bei dem Spiel anders als in den meisten Sportarten Männer und Frauen gegeneinander in den Wettkampf treten können. Das liegt auch an der Geschichte. Der Ursprung des Darts liegt in den englischen Pubs, in denen sich kaum eine Frau verirrte. „Der Sport kam in den 70ern aus dieser unheimlichen Machowelt. Und das ist vor allem bei den älteren Dartspielern noch immer im Hinterkopf", sagte einmal der Kommentator und Experte Elmar Paulke. Das professionelle Darts ist zwar geschlechtsneutral, doch der Sport wird nach wie vor von Männern dominiert. Daran haben auch die kleinen Erfolge von Sherrock und Co nichts geändert. Diese werden von den Verantwortlichen zwar bestmöglich vermarktet, für das Frauen-Darts im Allgemeinen hat sich im Wesentlichen aber nichts verändert. Dort fließt weder mehr Geld, noch werden die Turniere professioneller vermarktet. „Ich hoffe, dass wir irgendwann erkennen, dass dieser Moment der Start war, von dem an sich etwas verändert hat", hatte Sherrock nach ihrem ersten WM-Sieg gegen einen männlichen Kollegen gesagt. „Ich hoffe, dass wir Frauen mehr Beachtung erhalten. Wir verdienen es." Die Tennis-Ikone Billie Jean King, die sich auch als unermüdliche Frauenrechtlerin im Sport einen Namen gemacht hat, gratulierte Sherrock via Twitter zu ihrem Erfolg.
Die vor allem auf Profit ausgerichtete PDC erkannte schließlich auch das Potenzial, schließlich ziehen Frauen verstärkt das weibliche Publikum an. Doch bis zu dieser Einsicht habe es lange gedauert, sagt Experte Paulke: „Die PDC hat unglaublich lange verpennt, die Frauen anzusprechen. Und das sagt schon sehr viel über die Macher des Sports aus." Zur Wahrheit zählt aber auch: Frauen waren in dem Sport lange Zeit nicht gut genug, um mit den Männern konkurrieren zu können. Das hat sich mit Sherrock und Co geändert. „Wir haben die Frauen nicht als Kanonenfutter auf die Bühne gestellt. Wir wussten, dass sie das Niveau haben", sagt PDC-Geschäftsführer Matt Porter.
„Es gibt keinen Grund, warum ich es nicht kann"
Sherrock will auch bei der kommenden Weltmeisterschaft wieder mit den Männern wetteifern – und sie besiegen. „Es gibt keinen Grund, warum ich es nicht kann", sagt sie. Die männliche Konkurrenz hält sich mit Spott merklich zurück, seit die Frauen in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich an Aufmerksamkeit und Sympathie gewonnen haben. Sherrock mache es „ziemlich gut", lobte der niederländische Superstar Michael van Gerwen. „Mit ihrem Durchschnitt und ihrer Trefferquote auf die Doppelfelder verändert sie das Frauen-Darts." Aber, und auch das betont van Gerwen immer wieder gern, „sie hat noch nichts gewonnen."
Das stimmt, im Vergleich zu den besten Pfeilwerfern fehlen Sherrock und Co noch ein paar Prozent. Warum, das ist wissenschaftlich nur schwer zu erklären. Denn die Kraft, die bei den meisten Sportarten die immensen Unterschiede zwischen Mann und Frau resultieren, ist beim Darts kein Faktor. Genauso wenig wie die Hebelwirkungen. „Männer haben mehr Zeit, um zu trainieren", sagt Sherrock in einem Erklärungsversuch. „Wir Frauen haben die Mehrfachrolle als Mutter, Berufstätige und Hausmanagerin zu erfüllen. Mit mehr Zeit vor dem Board spielen wir genauso wie die Männer."
Mit 25 Jahren hat Sherrock die beste Zeit ihrer Karriere vermutlich noch vor sich. „In meiner Familie hat man immer Darts gespielt", erinnert sie sich. „Also habe ich mir mit 16 gesagt: ‚Jetzt mach ich das eben.‘" Der Erfolg stellte sich schnell ein: Zwei Jahre später flatterte die Nominierung für das englische Nationalteam ins Haus, und Sherrock entschied sich, Profi zu werden. Suzuki, die einst als Verkäuferin für Kosmetikprodukte in einem Kaufhaus tätig war, warf erst im Alter von 26 Jahren die ersten Pfeile aufs Board. Umso erstaunlicher ist ihr Aufstieg. „Am Anfang war ich richtig schlecht", erzählte sie einmal der Nachrichtenagentur AFP. Sie habe nie im Leben daran geglaubt, „den Sport professionell ausüben" zu können. Jetzt ist Suzuki eine „unglaublich überwältigende Spielerin, bei der es einfach nur Spaß macht zuzuschauen", wie Sherrock es ausdrückt. Suzuki will andere Frauen in ihrer Heimat Japan „für Darts begeistern", sie sei sich sicher, „dass wir in Zukunft mehr asiatische Spielerinnen sehen werden". Der Profiverband PDC hätte nichts dagegen. „Es gibt ausgeglichene Voraussetzungen. Wenn du gut genug bist, dann ist es egal, ob du eine Frau oder ein Mann bist, ob du dick oder dünn bist", sagte PDC-Boss Hearn. „Die großartige Sache bei Darts ist, dass es genderneutral ist."