Die klassische Musik leidet besonders unter der Corona-Krise. Musiker und Veranstalter müssen sich kreative Lösungen einfallen lassen, um wieder Konzerte anzubieten. Dafür sichern sie sich bei Medizinern ab.
Es ist schon kurios. Man geht wieder zum Friseur und ins Restaurant; Fluglinien dürfen ihre Mittelplätze besetzen. Doch die meisten Opernhäuser und Konzertsäle bleiben nach wie vor geschlossen. Dabei ist die einzigartige deutsche Musiklandschaft vielleicht sogar systemrelevanter als Baumärkte und Bundesliga. Immerhin wurde sie von der Unesco sogar für die Aufnahme ins Immaterielle Kulturerbe nominiert. Schließlich sind über die Hälfte der weltweiten Opernhäuser und Profiorchester in Deutschland zu Hause.
Doch mit dem Lockdown erlebte die Klassikszene einen Schock. Nun zeigt sich: Sie gehört zu jenen Bereichen, die am längsten von Corona-Einschränkungen betroffen sind. In Berlin dürfen Opern- und Konzerthäuser vorerst weiter nicht öffnen – zumindest bis Ende Juli, Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Besuchern sind bis Ende August untersagt. Und das Streaming aus leeren Sälen ist keine dauerhafte Alternative. Zudem ist eine weitere Einschränkung des Opern- und Konzertbetriebs riskant, könnte sie doch dauerhafte Schließungen nach sich ziehen.
Ende Mai legten die Kultusminister von Bund und Ländern ihr sechsseitiges Konzept „Eckpunkte für Öffnungsstrategien" vor. Die Minister befürworten darin eine behutsame Öffnung weiterer kultureller Einrichtungen. „Eine dauerhafte Schädigung der reichhaltigen Kulturlandschaft hierzulande muss verhindert werden", heißt es.
Nach der Sommerpause soll der Spielbetrieb daher wieder anlaufen. Viel Zeit bleibt damit nicht, um neue Arbeitsschutzstandards zu etablieren. Dabei fordern die einschlägigen Berufsverbände – von der Chefdirigenten-Konferenz bis zum Deutschen Musikrat – schon seit geraumer Zeit konkrete Hinweise zu Abständen und Hygiene für die Musiker und Sänger.
Um genaue Regeln für die Orchesteranordnung und den Instrumentengebrauch zu erhalten, haben sich die Vorstände der sieben hauptstädtischen Orchester an die Berliner Charité gewandt. Sie baten um Empfehlungen für ein gesundheitlich unbedenkliches Orchesterspiel in Corona-Zeiten.
Orchester brauchen Arbeitsschutz

Das Fazit der medizinischen Experten ist wenig überraschend: Da das Tragen von Atemschutzmasken für Sänger und Blasmusiker nicht infrage kommt, kann der Infektionsschutz nur über Sicherheitsabstände erfolgen. In Probenräumen oder Garderoben wird die Personenzahl beschränkt. Auf dem Podium gilt ein 1,5-Meter-Abstand für die Streicher; die Bläser sollen sogar zwei Meter voneinander entfernt sitzen. Außerdem werden sie zum Schutz ihrer Kollegen hinter Plexiglas verbannt. Denn bei den Blasmusikern ist das Ansteckungsrisiko höher, beim Spiel entstehen Atemnebel, Kondenswasser und Speicheltröpfchen. „Das im bisherigen Spielbetrieb übliche Verfahren, Flüssigkeit auf den Boden tropfen zu lassen oder auszukippen, ist unbedingt zu vermeiden, da diese Flüssigkeit potenziell infektiös sein kann", heißt es in der Charité-Studie. Die Flüssigkeiten müssen nun mit Einwegtüchern entfernt werden. Für ihre Studie und die daraus resultierenden Empfehlungen haben die Charité-Mediziner jedes einzelne Instrument unter die Lupe genommen. Grundsätzlich geht von Holzblasinstrumenten eine geringere Ansteckungsgefahr aus als vom Blech, stellten sie fest, da das Holz Feuchtigkeit absorbiert. Wie beispielsweise bei der Oboe.
Ein origineller Tipp kommt vom Bundeswehr-Institut für Strömungsmechanik und Aerodynamik, das ebenfalls die Infektionsrisiken beim Musizieren untersucht hat: Die Musiker an den Blasinstrumenten könnten eine Maske tragen. Es sei sinnvoll, „ein dünnes und dicht gewebtes Seiden- oder Papiertuch vor der Öffnung der Instrumente zu befestigen, um Speichelausstoß und Luftstrom zu begrenzen", heißt es in der Studie. „Befindet sich der Schutz in einem Abstand von etwa 20 Zentimetern vor dem Schalltrichter, so wird weder der Strömungswiderstand beim Musizieren noch die Schallausbreitung beeinflusst und daher auch nicht das Klangerlebnis", wurde experimentell festgestellt.
Große Besetzungen wie Wagner-Opern oder Sinfonien von Mahler und Bruckner werden jedenfalls schon aus Platzgründen in weite Ferne rücken. Zu erwarten ist hingegen, dass die Kammermusik gestärkt aus der Krise hervorgeht. Profitieren dürfte auch die Szene der Alten Musik, kommt doch barockes und frühklassisches Repertoire mit kleineren Ensembles aus. Eine Chance bietet die Ausnahmesituation weiterhin für zeitgenössische Komponisten, die eigens für die derzeitigen Bedingungen komponieren könnten.
Völlig offen bleibt, was aus dem Chorgesang wird. Wissenschaftliche Studien belegen eindeutig: Das Infektionsrisiko ist hier deutlich höher als im Orchester. Man denke nur an jene singende Baptisten-Gemeinde in Frankfurt, wo sich Ende Mai im Gottesdienst rund 200 Menschen infizierten. Das Freiburger Institut für Musikermedizin empfiehlt für professionelle Aufführungen und Konzerte Abstände von mindestens zwei Metern zwischen den Sängern. Die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft fordert gar sechs Meter.
Der Spielbetrieb wird sich ändern
So viel steht fest: Das Konzertleben muss und wird sich ändern. Viele Veranstalter nutzen die Sommerpause, um die Anpassung des Spielbetriebs vorzubereiten. Will Humburg, Dirigent und Vorstandsmitglied der Chefdirigenten-Konferenz, sprudelt vor Ideen. „Wir müssen alternative Aufführungsformen finden, und sei es, dass wir das Publikum nur ins Parkett setzen, die Bläser vom ersten Rang spielen, die Streicher auf der Bühne platziert sind und der Chor vom zweiten Rang singt", erzählte er der „Stuttgarter Zeitung". „Warum nicht das Orchester auf die Probebühne setzen und den Ton auf die Bühne übertragen, wo sich dann Tristan und Isolde mal nicht anfassen. Oder wir führen Kammerfassungen von Opern auf." Den Dirigenten, aber auch Intendanten und Regisseuren, die schließlich von Berufs wegen kreativ sind, dürfte da noch einiges mehr einfallen.
Daneben gilt es, Hygienemaßnahmen für das Publikum zu erarbeiten: Sitzplätze müssen frei bleiben; Besucherströme zeitversetzt gesteuert werden, mit Absperrungen und Pfeilen auf dem Boden. Die Gastronomie bleibt geschlossen. Die Konzertpause entfällt. Toiletten werden nach jedem Besucher desinfiziert. So ging es jedenfalls Anfang Juni im Konzerthaus Dortmund zu, wo hierzulande das erste „richtige" Sinfoniekonzert mit großem Orchester seit dem Lockdown stattfand.
In Taiwan, wo das National Symphony Orchester seit Juni wieder Konzerte gibt, müssen sogar sämtliche Besucher am Eingang die Temperatur messen lassen und ihre Kontaktdaten hinterlegen.
Im deutschsprachigen Raum gehört das Brucknerhaus in Linz zu den ersten Konzertsälen, die wieder ihre Pforten öffnen. Im Juli sind mehrere Konzerte geplant. Auf der riesigen Bühne können die Musiker mühelos Abstand halten. Im großen Saal werden von den 1.500 Plätzen höchstens 250 besetzt.
Im August gehen dann die Salzburger Festspiele – das einzige der großen Sommerfestivals, das nicht abgesagt wurde – mit einem ausgedünnten Programm an den Start. Hier müssen sich die Künstler testen lassen und ein Gesundheitstagebuch führen. Selbstverständlich gelten auch für die Besucher Abstands- und Hygieneregeln.
Wirklich erfüllend sind all diese Ansätze für echte Klassikfans nicht. So resümiert eine Besucherin des Dortmunder Sinfoniekonzerts Anfang Juni: „Eine echte Konzertstimmung, die will sich einfach nicht einstellen. Denn ein jeder sitzt für sich allein. Daran können wir uns nicht gewöhnen." Müssen sich Klassik-Fans aber – zumindest in den kommenden Monaten, denn wie lange die Einschränkungen gelten, ist noch nicht absehbar.