Seit rund 135 Jahren hat sich bei einer Blinddarmentzündung die Operation längst als Behandlungsmethode erster Wahl durchgesetzt. Laut neuerer Studien könnten aber Antibiotika eine sinnvolle Alternative sein.
Schätzungen zufolge sind fünf bis sieben Prozent der Menschen weltweit von einer Entzündung des am Ende des Blinddarms ansetzenden Wurmfortsatzes betroffen. Im Volksmund wird dies gemeinhin als Blinddarmentzündung und im medizinischen Fachjargon als Appendizitis bezeichnet. Diese kann zwar theoretisch in jedem Lebensabschnitt auftreten, doch die überwiegende Mehrzahl der Fälle taucht im Kindes- und Jugendalter auf. Was letztendlich der Auslöser für die Blinddarmentzündung ist, ist wissenschaftlich noch immer nicht ganz geklärt. Verstopfungen durch Kotsteine oder Fremdkörper, Sekretstauungen oder auch eine Abknickung des Appendix könnten dabei eine wesentliche Rolle spielen. Aber auch Bakterien, Viren, Parasiten oder generelle Infektionen des Darms werden als Ursachen genannt. Der Wurmfortsatz ist nicht lebensnotwendig, früher galt er daher als unnützes Relikt aus der menschlichen Evolutionsgeschichte. Inzwischen lassen Studien den Schluss zu, dass er innerhalb des Immunsystems einen relevanten Part als Reservoir für wichtige Darmbakterien darstellen könnte.
Eine akute Appendizitis kann über verschiedene Stadien der Entzündung zu einer lebensbedrohlichen Ruptur oder Perforation des Wurmfortsatzes führen, gemeinhin Blinddarmdurchbruch genannt. Dabei können durch Löcher Kot oder Bakterien in die umliegende Bauchhöhle austreten und eine gefährliche Bauchfellentzündung auslösen. Meist kommt deshalb nach Blutuntersuchung und bildgebenden Diagnoseverfahren wie Ultraschall, CT oder MRT das Skalpell zum Einsatz. Jedes Jahr werden in der Bundesrepublik rund 100.000 Blinddarm-Operationen durchgeführt. Sie zählen damit zu den häufigsten chirurgischen Eingriffen, im Schnitt hat jeder zehnte Deutsche eine kleine Narbe über der rechten Hüfte. Wobei sich laut dem Berliner Gastroenterologen Prof. Siegbert Faiss bei zehn bis 40 Prozent der Operationen im Nachhinein herauszustellen pflegt, dass sie unnötig waren, weil gar keine Entzündung des Wurmfortsatzes vorgelegen hatte. Deren Diagnostizierung ist auch nicht immer einfach und zutreffend. Eigentlich schon Grund genug, sich über Alternativen Gedanken zu machen.
Eine Ruptur oder Perforation des Wurmfortsatzes
Schon ab den 50er-Jahren hatte es erste Ansätze gegeben, die Gabe von Antibiotika als Alternative zur klassischen Blinddarmoperation zu erproben. Zwar wurde damals schon von positiven Erfahrungen beim Antibiotikaeinsatz gesprochen, aber eigentlich wird das Thema erst in den letzten fünf Jahren kontrovers diskutiert.
Eine Studie des finnischen Turku University Hospitals aus dem Jahr 2015 war so etwas wie der Auslöser. Die Forscher konnten anhand von 530 erwachsenen Probanden nachweisen, dass bei unkomplizierten Blinddarmentzündungen die Gabe von Antibiotika als Behandlungsmethode völlig ausreichend ist. Die Wissenschaftler hatten die Probanden in zwei Gruppen aufgeteilt, 273 Personen in eine OP-, 256 in eine Antibiotika-Gruppe. Die Erfolgsquote war in der Antibiotika-Gruppe mit 70 Prozent sehr hoch, bei 186 der 256 Patienten konnte die Entzündung durch ein Antibiotikum erfolgreich bekämpft werden. Auch nach Ablauf des folgenden Jahres war die Entzündung nicht mehr aufgetreten. Nur bei 70 Probanden, sprich 27 Prozent, zeigte das Medikament nicht die gewünschte Wirkung, weshalb sie doch noch operiert werden mussten. Trotz der OP-Verzögerung hatte es keine größeren Komplikationen gegeben. „Es ist an der Zeit, darüber nachzudenken", so die Wissenschaftler im Fachmagazin „Jama", in dem die Studie veröffentlicht wurde, „die routinemäßige Blinddarm-OP bei Patienten mit einer unkomplizierten Entzündung abzuschaffen."
In Deutschland blieben viele Experten erst einmal skeptisch, auch wenn inzwischen schon mal einige Ärzte bei leichten Entzündungen den Patienten zur Behandlung mit Antibiotika raten. Die Skeptiker verweisen auf den hohen Aufwand und die erhebliche Strahlenbelastung durch den Einsatz der Computertomografie, weil nur dadurch die etwaige Unkompliziertheit der Entzündung festgestellt werden könne. Ein solcher Aufwand, der zusätzlich noch durch eine nötige stationäre Beobachtung erhöht werde, sei kaum zu rechtfertigen, zumal wenn anschließend doch noch bis zu 30 Prozent der Betroffenen operiert werden müssten. Auch die Gefahr der Ausbildung von Resistenzen durch den Antibiotikaeinsatz wird ins Feld geführt. Zudem könnten die Ergebnisse der finnischen Studie nicht einfach von Erwachsenen auf betroffene Kinder und Jugendliche übertragen werden.
Inzwischen sind weitere europäische Studien erschienen, die speziell letzteren Einwand weitgehend entkräften konnten. Es hat sich allerdings herausgestellt, dass bei rund 40 Prozent der nur mit Antibiotika behandelten Patienten die Blinddarmentzündung im Verlauf von einigen Monaten wieder aufgetreten war. Deshalb empfiehlt beispielsweise Prof. Bernd Tillig, Chefarzt an der Vivantes-Kinderchirurgie am Klinikum Neukölln in Berlin, für Fälle, in denen die antibiotische Behandlung nicht ausreichen sollte, die sogenannte Intervall-Appendektomie, eine zeitversetzte Blinddarmentfernung nach einer Antibiotika-Therapie. Prof. Tillig hält ohnehin viel von der Antibiotika-Therapie. Mehrere Entzündungen in Folge sollten aber nicht mit Antibiotika therapiert werden, weil die Gefahr der Resistenzen-Ausbildung zu groß sei.
Kürzere Genesungsdauer
Obwohl eine 2018 im Journal „Jama Surgery" erschienene Studie der US-Universität Stanford auf Basis von rund 58.000 Patienten zu dem Ergebnis gekommen war, dass Betroffene mit alleiniger Antibiotika-Behandlung „ein höheres Risiko, noch einmal wegen appendix-bezogener Probleme vorstellig zu werden, zum Beispiel wegen abdominaler Abzesse" haben sollen, zeigte sich die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie in einer Pressemitteilung vom April 2018 durchaus offen für einen Neuansatz – vor allem bei betroffenen Kindern. Obwohl die Misserfolgsrate bei den Kids ähnlich wie bei den Erwachsenen bis zu 40 Prozent betragen könne und von den geheilten Kindern letztlich in der Folgezeit doch wieder 30 Prozent eine neue Blinddarmentzündung bekommen könnten. „Zu den Vorteilen gehört, dass den Kindern eine Narkose und eine – wenn auch vergleichsweise einfache – Operation erspart bleibt. Vorerst jedenfalls." Zudem sei die Blinddarmdiagnose speziell bei Kindern dank modernster Ultraschalltechnik inzwischen sehr treffsicher, Fehldiagnosen kämen daher nur noch selten vor: „Wenn eine akute Appendizitis vorliegt und der Wurmfortsatz verdickt ist, sehen wir das zu 90 Prozent im Ultraschall."
Eine Ende Juli im Journal „Jama" publizierte US-Studie des Nationwide Children’s Hospital in Ohio unter Leitung von Dr. Peter Minneci bestätigte die These, dass bei unkomplizierten Fällen eine medikamentöse, schmerzfreie und risikoärmere Behandlung mit Antibiotika ausreichen kann. Die Wissenschaftler gewannen ihre Erkenntnisse auf Basis von 1.068 Kindern im Alter zwischen sieben und 17 Jahren, die allesamt an einer unkomplizierten Appendizitis erkrankt waren. 370 Familien wählten für ihr Kind die nichtoperative Alternative, woraufhin dem Kind zunächst 24 Stunden lang ein Antibiotikum per Infusion verabreicht wurde. Danach musste die Behandlung sechs Tage lang zu Hause mit Tabletten fortgesetzt werden. Ergebnis: Die Antibiotika-Therapie reichte bei 67,1 Prozent der damit behandelten Kids aus, um die Blinddarmentzündung zu kurieren und eine Operation auch im Verlauf des gesamten Folgejahres überflüssig zu machen. Die nicht-operierten Kinder waren im Schnitt nach sechs Tagen wieder fit, während ihre operierten Altersgenossen rund elf Tage im Krankenhaus bleiben mussten. „Chirurgen neigen dazu, Operationen zu befürworten", so Peter Minneci, „und die Blinddarm-OP ist eine etablierte und vertraute Prozedur. Aber einige Patienten wollen eine OP gerne vermeiden. Und unsere Resultate sprechen dafür, dass in diesen Fällen auch eine nicht-operative Behandlung effektiv sein könnte."