Der bildungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Oliver Kaczmarek, will, dass mehr Studierende Bafög bekommen. Neben der Uni soll es aber weiterhin auch andere Wege des sozialen Aufstiegs geben.
Herr Kaczmarek, vor allem in der SPD, aber nicht nur da, gilt Bildung als der Schlüssel für Chancengerechtigkeit. Welche Bedeutung hat Bildung für Sie persönlich, in Ihrem Leben?
Mein ganz persönlicher Bezug ist der eines klassischen Bildungsaufsteigers. Mein Vater war Bergmann, meine Mutter Hausfrau. Wir haben in einer Arbeitersiedlung gewohnt. Damals war nicht abzusehen, dass mein älterer Bruder später eine wichtige Funktion in einem großen mittelständischen Unternehmen bekommen und dass ich eine Universität besuchen würde. Ich habe diesen Weg gehen können, weil er durch politische Entscheidungen ermöglicht wurde. Etwa durch die Gesamtschule, die für uns Arbeiterkinder reale Aufstiegschancen bot, oder dadurch, dass Johannes Rau im Ruhrgebiet die Universitäten ausgebaut hat. Heute ist die Gesellschaft natürlich eine ganz andere und die Aufstiegsmöglichkeiten sind von vielen Faktoren abhängig. Wir müssen Aufstieg heute neu denken. Es geht nicht unbedingt darum, dass alle auf eine Universität gehen müssen, sondern jeder muss die gleichen Möglichkeiten haben, sich frei zu entfalten und selbst den Weg zu wählen, der ihm gerecht wird. Meine Tochter kommt nächstes Jahr in die Schule. Nicht nur deshalb interessiert mich das Thema immer noch sehr.
Muss es denn immer akademische Ausbildung sein? Ist sie immer der beste Weg zu sozialem Aufstieg?
Mein Bruder zum Beispiel hat keine Uni besucht, und ich glaube, er ist genauso glücklich wie ich und hat einen sehr guten Verdienst. Eine akademische Laufbahn ist nicht der einzige Weg für gute Aufstiegschancen. Zwar brauchen wir noch mehr Studierende, weil sich unsere Arbeitsgesellschaft verändert und wir noch mehr Hochqualifizierte benötigen. Aber das Geheimnis unseres Erfolgs in Deutschland ist doch der Facharbeiter. Berufliche Bildung ist eine Chance für einen guten Arbeitsplatz und ein gutes Einkommen. Deshalb müssen wir sie so ausgestalten, dass sie als attraktiv wahrgenommen wird und Aufstiegswege mitbeinhaltet. Wir sollten hier gleichberechtigte Karrierewege eröffnen.
Corona hat unser Bildungssystem kräftig durcheinandergeschüttelt. Hat es sich als stabil genug erwiesen?
Corona hat vor allem schonungslos aufgedeckt, wo die Defizite sind, etwa bei der digitalen Infrastruktur. Hier haben viele Lehrerinnen und Lehrer Hervorragendes geleistet. Sie haben den Betrieb aufrechterhalten unter schwierigen Bedingungen. Aber viele Jugendliche – und gerade die mit dem größten Unterstützungsbedarf – haben wir in der Corona-Zeit nicht erreicht. Teilweise, weil digitale Endgeräte gefehlt haben oder weil sie nicht richtig genutzt werden konnten.
Was wird sich langfristig verändern?

Das Digitale wird nicht mehr verschwinden. Darum müssen wir die Art und Weise des Lernens und Lehrens umstellen. Das Digitale ergänzt den Präsenzunterricht, das Lernen selbst hat immer noch etwas mit persönlicher Begegnung und Austausch zu tun. Aber es wird die Ergänzung durch digitale Elemente geben. Dafür brauchen wir die technische Infrastruktur und die Qualifizierung von Lehrerinnen und Lehrern. Bei der Infrastruktur geben wir jetzt viel Geld aus. Wie sich das digitale Lehren gestaltet, das ist aber eine riesige Herausforderung. Da sind andere Länder schon viel weiter. Die Digitalisierung könnte auch in der Verwaltung viel vereinfachen, etwa beim Bafög-Antrag.
Stichwort Bafög. Was haben Sie in der Großen Koalition beim Bafög erreicht? Das ist doch ein klassisches SPD-Thema.
Wir haben das Bafög angepasst: Wir haben die Freibeträge für das Elterneinkommen angehoben und auch die Bedarfssätze, also die Höhe der Auszahlung. Wir stellen trotzdem fest, dass die Zahl derjenigen, die Bafög bekommen, immer noch sinkt. Derzeit bekommen es nur zehn bis zwölf Prozent aller Studierenden. Wir wollten mit den Anpassungen bewirken, dass es mehr werden. Wir erreichen aber viele Familien in der gesellschaftlichen Mitte nicht mehr. Ich will Bafög auch für die Berufstätigen, die nicht arm sind, und vielleicht zwei Kinder in Ausbildung haben. Das ist auch meine Kritik an der Ministerin. Ich vermisse den Ehrgeiz, das Bafög so aufzubauen, dass es bis in die Mitte der Gesellschaft reicht.
Hapert es an den objektiven Zugangsberechtigungen? Oder gibt es da noch andere Hürden?
Beides. Die Einkommen sind gestiegen, aber die Freibeträge wurden nicht ausreichend angepasst. Aber das Problem fängt früher an. Ich habe Schulen besucht im Ruhrgebiet, wo die sozialen Herausforderungen ganz besondere sind. Da habe ich Schülerinnen und Schüler getroffen, die das Abitur machen sollten, aber sich gar nicht angesprochen fühlen. Wir müssen diese jungen Leute besonders bestärken, zu studieren. Dazu müssen wir die Schwellen absenken. Ein vereinfachtes Verfahren für das Bafög ist dabei ein ganz wichtiger Aspekt. Da prallen manchmal Welten aufeinander – und das betrifft viele junge Menschen. Wenn die Studierenden heute ins Bafög-Amt gehen und fragen: „Mit welcher App kann ich das beantragen?“ Dann sagt das Bafög-Amt: „Da brauchen wir erst mal einen Einkommensteuerbescheid“. Damit haben viele Studierende noch nie Kontakt gehabt. Natürlich müssen wir das Einkommen der Eltern prüfen, aber kann das Bafög-Amt das nicht auch direkt beim Finanzamt abfragen?
Ist es ein Problem, dass Deutschland keine Harvard-Uni hat?
Nein, ganz im Gegenteil, das ist eigentlich die Stärke des deutschen Wissenschaftssystems. Wir haben überall im Land exzellente Forschung und Lehre, verteilt auf viele Institute. Diese Breite macht gerade unsere Leistungsfähigkeit aus. Dazu kommen die außeruniversitären Forschungseinrichtungen wie die Max-Planck-Gesellschaft mit ihren vielen Standorten. Die sind eigentlich unser Harvard. Wir wollen das gar nicht alles an einem Standort konzentrieren. Die Herausforderung ist, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich die Wissenschaftler besser untereinander vernetzen und ihre Ergebnisse teilen können. So, wie es jetzt bei Impfstoffforschung passiert.
Was ist eigentlich Sinn und Zweck von Forschung? Wir finanzieren sie mit vielen Milliarden. Wozu?
Wissenschaftliche Forschung ist wichtig und muss ihren Stellenwert in der Gesellschaft behalten. Wir sehen derzeit in Teilen von Politik und Gesellschaft eine Verweigerung, Wissenschaft ernst zu nehmen. Das zeigt sich etwa bei den Corona-Leugnern. Diese Gefahr dürfen wir nicht ignorieren. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen in der politischen Debatte ernst genommen werden.
Hochschulen sind für mich der Ort, wo Zukunft gedacht wird. Das ist für mich mehr als nur das, was wir wirtschaftlich verwerten können. Wohlstand ist natürlich wichtig, auch dafür brauchen wir Innovationen. Aber für uns Sozialdemokraten ist diese Idee weiter gefasst. Wir sagen: Fortschritt heißt auch sozialer Fortschritt, also Gerechtigkeit. Das will ich gerne zusammenbringen. Und dazu brauchen wir die Wissenschaft. Dazu brauchen wir übrigens auch Fächer, die nicht so im Fokus stehen. Wir setzen uns dafür ein, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften, etwa die Arbeitswissenschaft, einen hohen Stellenwert haben. Mein Wunsch ist, dass wir eine weiter gefasste Fortschrittsidee etablieren, dabei halte ich die Wissenschaft für unverzichtbar.
Gibt es inzwischen Chancengleichheit in der Bildung?
Wir haben schon viel erreicht. Aber es gibt noch große, neue und alte Baustellen. Welche Bildungschancen haben Kinder mit Migrationshintergrund in Deutschland? Da gibt es noch viel zu tun, das ist im Ruhrgebiet besonders deutlich. Die Chancen sind unterschiedlich verteilt, darum müssen wir unterschiedlich unterstützen. Wir müssen dort, wo der Bedarf am größten ist, die Schulen und Hochschulen besonders unterstützen, dort mehr leisten.
Etwa die Universität Duisburg-Essen, das ist die Hochschule mit dem höchsten Anteil von Studierenden mit Migrationshintergrund. Was diese Uni für Chancengleichheit und Fachkräfteausbildung tut, ist großartig und sollte anerkannt werden.
Wird es nach der Bundestagswahl nächstes Jahr wieder eine Große Koalition geben?
Ich glaube, das will niemand. Das war letztlich auch vor der vergangenen Bundestagswahl schon so. Die SPD hat dann in der Regierung Verantwortung übernommen, nachdem die anderen keine Koalition bilden wollten oder konnten. Am Ende bin ich froh, dass die SPD regiert, weil wir nur so für mehr Gerechtigkeit in diesem Land sorgen können. Leider werden viele Erfolge dieser Regierung uns nicht zugeschrieben. Aber trotzdem: Wir wollen eine Mehrheit ohne die Union erreichen. Gerade bei den Bildungsthemen und Fragen der Chancengleichheit, etwa beim Bafög oder den Schulen in Brennpunkten, haben wir große Unterschiede zur CDU/CSU. Ich glaube, dass wir mit anderen Mehrheiten einfach mehr bewegen können.