Die Fantastereien von Baron Münchhausen – mit Illustrationen des Franzosen Gustave Doré – sind in einer Neuauflage bei der Büchergilde Gutenberg erschienen. „Des Freiherrn von Münchhausen wunderbare Reisen und Abenteuer“ – eine Wiederentdeckung.
Die Lügengeschichten von Baron Münchhausen sind so sehr in unser kollektives Gedächtnis übergegangen, dass wir selbst kaum mit Sicherheit sagen können, ob wir die Geschichten „Des Freiherrn von Münchhausen wunderbare Reisen und Abenteuer“ schon einmal gelesen haben oder nicht. Ich würde behaupten wollen, dass nicht nur die Geschichte vom fliegenden Baron auf der Kanonenkugel jedem ein Begriff ist, sondern dass viele dabei auch den vom Künstler Gustave Doré illustrierten Münchhausen vor Augen haben. Mindestens haben aber die Bildideen des französischen Künstlers in den Interpretationen späterer Illustratoren weitergelebt.
Dorés Münchhausen ist ein langer Lulatsch, der sich und sein Pferd an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht, der im Bauch eines Riesenfisches überlebt oder im Erdinnern mit Venus persönlich flirtet, um vom eifersüchtigen Vulkan hochkant hinaus- und auf die andere Seite der Erde hinbefördert zu werden. Der lockere Charakter der Illustrationen unterstützt den Charme des Barons, der bei seinen Heldentaten wenig herrschaftlich daherkommt, sondern sich am liebsten in der Rolle des Abenteurers und Draufgängers sieht. Dem schlaksigen Kerl mit seinen flatternden Rockschößen und dem dünnen Zopf traut man keine Heldentaten zu – umso komischer wirken seine Geschichten.
Abenteurer und Draufgänger
Gustave Doré (1832–1883) hat als Buchillustrator viele namhafte Werke illustriert und ist besonders berühmt für seine Grafiken in der bekanntesten Bibelausgabe des 19. Jahrhunderts. So detailreich, dramatisch und – in ihrer Ernsthaftigkeit – steif die Bibelillustrationen sind, so komisch, karikaturhaft und leicht sind die Illustrationen zu Münchhausen. Allein diese Bandbreite lässt keinen Zweifel daran, welch ein Virtuose Doré in seinem Fach gewesen ist.
In Frankreich zählte Doré zu den Hauptmeistern der Drucktechnik des Holzstichs, mit dem auch die Münchhausen-Grafiken entstanden sind. Wie der Holzschnitt ist auch der Holzstich ein Hochdruckverfahren, bei dem die erhabenen Bereiche eingefärbt und gedruckt werden. Mit komplexen Schraffuren können Grauwerte und Lichteffekte wie bei einem Gemälde erzeugt werden. Der Bildcharakter der Technik ist eher dem Kupferstich verwandt, als Hochdruck aber mit dem Schriftsatz kompatibel und daher für die Buchillustration von großer Bedeutung gewesen. Zu den Münchhausen-Bildern lieferte Doré die Entwürfe, zeichnete zum Teil direkt auf den Druckstock und beauftragte unter anderen die Holzschneider Pisan und Pannemaker mit der Umsetzung als Holzstich. Die Abbildungen reichen von kleinen Vignetten bis hin zu ganzseitigen Grafiken, wobei insbesondere bei den Vignetten der lockere Schwung der Handzeichnung erhalten ist.
Spektakuläre Entstehungsgeschichte
Auch die Entstehungsgeschichte des Buches ist spektakulär und bei den heutigen Urheberrechtsbestimmungen kaum mehr denkbar: „Des Freiherrn von Münchhausen wunderbare Reisen und Abenteuer“ ist 1786 auf Deutsch durch Gottfried August Bürger veröffentlicht worden, der die Geschichten nicht nur aus dem Englischen übertragen, sondern auch inhaltlich verändert und erweitert hatte. Zuvor waren sie auf Englisch von Rudolf Erich Raspe aufgeschrieben und 1785 in England veröffentlicht worden. Aber auch Raspe hat sie nicht erfunden, sondern war Gast bei dem adligen Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen, hatte ihm bei Jagdgesellschaften an heiteren Abenden zugehört und dessen Anekdoten aus der Erinnerung heraus niedergeschrieben. Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen wiederum hatte sich ebenfalls der Erzählungen anderer bedient, denn er verstand es, Geschichten aus dem Volksmund in seine eigenen Jagd- und Reiseerlebnisse einzubinden, sodass die Grenze zwischen Wahrheit und Dichtung für seine Zuhörer kaum zu erkennen war.
Lügengeschichten als Nachweis für mangelnde Vertrauenswürdigkeit
1866 erschien die von Gustave Doré illustrierte französische Veröffentlichung von Münchhausens Lügengeschichten. Viele Ausgaben folgten, und nicht immer waren alle Grafiken der Erstausgabe enthalten. So auch bei der 1954 erschienenen Variante des Buches in der Büchergilde Gutenberg, die nun neu aufgelegt wird. Jene Illustrationen Dorés, die nicht in dieser Ausgabe enthalten sind, haben einen anderen Platz im aktuellen Programm der Büchergilde gefunden: im „Büchergilde Bilderbogen Nr. 2“.
„Ein Freibrief fürs Dazuerfinden“ sei das Thema, schreibt auch der Kabarettist, Liedermacher und Theatermann Rainald Grebe in seinem pfiffigen, aber auch durchaus nachdenklich gestimmten Nachwort zur Neuauflage. Nicht ohne Grund hat er sich den Baron Münchhausen als Schlüsselfigur für sein neues Bühnenprogramm gewählt. Die episodenhaften Geschichten laden geradezu zum Weiterspinnen, Neuerfinden und Ergänzen ein. Münchhausen als Thema anzugehen ist aber auch ein Weg, zu thematisieren, was uns aktuell am meisten auf den Nägeln brennt: der Umgang mit der Lüge. Denn wo Dichtung ihren naiven Rahmen verlässt, wird sie zur Lüge. Das Fabulieren, das Prahlen, Übertreiben und Erfinden gehört bekanntermaßen nicht nur zu Abendgesellschaften nach der Jagd oder auf die Bühne. Es gehört auch zu manch einem Streitgespräch am Kneipentresen. Wie Rainald Grebe bedauernd feststellt, ist dem historischen Baron Münchhausen seine Neigung zum Fabulieren auf die Füße gefallen, als seine zweite Frau sich von ihm scheiden lassen wollte und der Anwalt das inzwischen veröffentlichte Buch mit seinen Lügengeschichten als Nachweis für seine mangelnde Vertrauenswürdigkeit heranzog. Hier bedauert man den armen Tor. Wären doch alle Lügen so leicht als solche zu erkennen wie die fantastischen Flunkereien des Barons!