Dr. med. Robert Untucht leitet die Spezialsprechstunde Botulinumtoxin am Uniklinikum Dresden, in der sich Patienten mit unterschiedlichen Erkrankungen behandeln lassen können. Im Interview spricht der Neurologe über seine Erfahrungen, Möglichkeiten und Grenzen von Behandlungen mit dem neurotoxischen Protein.
Herr Dr. Untucht, bei welchen Erkrankungen kann Botulinumtoxin generell zum Einsatz kommen?
Da kann man prinzipiell drei große Gruppen unterscheiden: Dystonien, Spastik und nennen wir es mal Sonstiges. Dazu muss ich ein bisschen ausholen. Ein normaler Muskel ist auch in entspanntem Zustand nicht völlig schlaff, sondern hat eine gewisse Grundspannung. Auf Signale vom Gehirn hin zieht er sich dann zusammen und eine Bewegung entsteht. Je nachdem, ob man eine feine oder kräftige Bewegung machen will, ist das entsprechende Signal schwächer oder stärker. Gleichzeitig müssen die Muskeln, die in die entgegengesetzte Richtung ziehen, lockerlassen.
Bei dystonen Erkrankungen („Spannungen", Anm. d. Red.) ist diese Feinsteuerung der Muskelspannung gestört, die Ursache liegt in winzigen Veränderungen in bestimmten Gehirnregionen. Es werden stärkere Signale an den Muskel gesendet, als für die geplante Bewegung notwendig wäre, gleichzeitig werden die Gegenspieler entweder nicht entspannt oder sogar mit angespannt. Am häufigsten ist die zervikale Dystonie, dabei ist die Kopfhaltung betroffen, dann dreht man zum Beispiel den Kopf immer ungewollt schief zu einer Seite, manche Leute können dadurch gar nicht mehr geradeaus sehen. Aber auch der Lidkrampf mit sekundenlangem Zukneifen der Augen bis zur Blindheit oder Verdrehungen einer Hand oder eines Fußes kommen vor. Insgesamt sind das eher seltene Erkrankungen, auf 5.000 Menschen kommt ein Patient.
Und bei einer Spastik?
Bei einer Spastik („Krampf", erhöhte Eigenspannung, Anm. d. Red.) ist der Auslöser anders. Sie ist durch Schäden im Gehirn oder Rückenmark verursacht, zum Beispiel nach einem Schlaganfall oder einem Unfall. Als Folge werden die im Rückenmark gelegenen und zu den Muskeln führenden motorischen Nervenzellen überempfindlich und reagieren auf jedes kleinste Signal mit einer Erhöhung der Aktivität und damit der Muskelanspannung. Wo sich sonst die Muskelspannung nach jeder Bewegung sofort wieder auf das normale Grundniveau einstellen würde, verkrampfen sich stattdessen die Muskeln und lassen erst nach einiger Zeit wieder locker. Wenn in der Zwischenzeit ein neues Signal kommt, oder sogar als falsche Rückkopplung durch die verkrampfende Bewegung selbst, dann wird es gar nicht besser. Im schlimmen Fall kann das sehr schmerzhaft sein oder es kann zu hygienischen Problemen kommen, zum Beispiel wenn sich der Arm so stark an den Oberkörper presst, dass man die Achsel nicht mehr waschen kann. Oder wenn die Finger immer zur Faust geballt sind und dadurch die Fingernägel nicht mehr geschnitten werden können und sich schließlich in die Handfläche bohren.
Sie erwähnten noch sonstige Erkrankungen.
Die Gruppe der sonstigen Erkrankungen ist bunt gemischt. Darunter fallen zum Beispiel die schwere chronische Migräne, eine übermäßige Schweißproduktion und der übermäßige Speichelfluss. Der übermäßige Speichelfluss kann bei manchen neurologischen Erkrankungen wie zum Beispiel der Parkinsonerkrankung auftreten, wenn das Schlucken nicht richtig funktioniert und sich der Speichel dann im Mund sammelt. Eine Unterform der Harninkontinenz, nämlich dann, wenn sie durch eine Überaktivität der Blasenwandmuskulatur bedingt ist, kann von Urologen durch die Harnröhre behandelt werden. Und dann gibt es noch Erkrankungen von Speiseröhre oder Darm, die ich als Neurologe noch nie gesehen habe, wo es Berichte über gute Behandlungserfolge gibt.
Sollten Betroffene dieser Erkrankungen Botulinumtoxin einfach mal ausprobieren?
Für die meisten Dystonieformen ist Botulinumtoxin tatsächlich die Behandlung der ersten Wahl. Bei anderen Erkrankungen müssen erst diverse teils komplexe Bedingungen erfüllt sein. Zum Beispiel müssen bei einer chronischen Migräne schon mehrere andere Langzeitmedikamente versagt haben und die Patienten müssen mindestens 15 Kopfschmerztage pro Monat haben. Das sind ziemlich hohe Hürden. Und wenn eine Spastik mehr als nur einen Körperteil betrifft, sollte man es zunächst mit verschiedenen Tabletten versuchen, die auf den ganzen Körper wirken. Es gibt nämlich für Botulinumtoxin eine Maximaldosis und die reicht bei schwer betroffenen Patienten nicht aus, um mehr als ein oder zwei Extremitäten zu behandeln.
Seit wann wird Botulinumtoxin angewendet?
Ende der 70er-Jahre gab es erste Versuche bei der Behandlung des Schielens. Das hatte eher gemischte Erfolge, hat aber dazu geführt, dass in vielen anderen Bereichen ausprobiert wurde. Seit den 80ern in den USA und seit 1993 in Deutschland gibt es offizielle Zulassungen gegen viele Dystonien, damit begann der Siegeszug dieser Therapieoption.
Wie genau wirkt es im Körper?
Botulinumtoxin blockiert die Übertragung von Nervensignalen, wenn das durch bestimmte Botenstoffe erfolgt. In den meisten Fällen, dazu zählen Spastiken, Dystonien und Inkontinenz, betrifft dies das Acetylcholin an der motorischen Endplatte, der Verbindungsstelle zwischen Nervenfaser und Muskel. Botulinumtoxin verhindert, dass das Acetylcholin aus den Nervenendigungen freigesetzt wird, somit kommt am Muskel weniger Signal an und er spannt sich weniger an. Bei der Migräne geht man davon aus, dass es bestimmte Botenstoffe in Schmerzfasern betrifft. Der große Vorteil gegenüber Tabletten ist, dass Botulinumtoxin nur dort wirkt, wohin man es spritzt. Dadurch kann man gezielt einzelne Muskeln behandeln und die Muskeln daneben bleiben so wie vorher, außerdem gibt es keine Nebenwirkungen im Rest des Körpers. Der Nachteil ist, dass man bei manchen Erkrankungen dadurch schon mal zehn bis 20 Einstichstellen braucht, das sind für die Patienten unangenehme fünf Minuten.
Tritt die positive Wirkung sofort ein?
Der Wirkstoff muss sich erst im Gewebe verteilen und in die Nervenendigungen eindringen, bevor er dort wirken kann. Normalerweise merken die Patienten nach drei bis sieben Tagen den ersten leichten Effekt, der sich dann aber über ein bis zwei Wochen noch weiter aufbaut.
Muss man die Behandlung regelmäßig wiederholen?
Leider muss man die Behandlung regelmäßig wiederholen, weil sich die Nervenendigungen langsam regenerieren. Im Durchschnitt hält die Wirkung drei Monate an, aber manche Patienten merken schon nach acht Wochen oder früher ein Nachlassen der Wirkung. Andere kommen hingegen vier oder gar sechs Monate zurecht.
Bei welchen Krankheitsbildern haben Botulinumtoxin-Behandlungen den größten Erfolg?
Je nachdem, was man unter Erfolg versteht, muss man da differenzieren. Vollständig symptomfrei werden nur wenige Patienten, das sind oft solche mit eher umschriebenen Dystonien, wie zum Beispiel einem Lidkrampf. Bei der zervikalen Dystonie kann man die Symptomausprägung meist deutlich reduzieren, merkt aber fast immer noch einen Rest davon. Das liegt daran, dass es am Hals ungeheuer viele verschiedene Muskeln gibt, die kreuz und quer verlaufen und den Kopf je nach Halsstellung in unterschiedliche Richtungen ziehen können. Und insbesondere bei einer Spastik muss man vorher mit den Patienten ganz klar besprechen, was man überhaupt erreichen will und kann. In dem vorhin genannten Beispiel mit dem Arm wäre es ein realistisches Therapieziel, dass die Schulter so viel lockerer wird, dass man die Achselhöhle waschen kann und der Kleidungsärmel halbwegs gut angezogen werden kann. Dass der Patient nach der Behandlung den Arm senkrecht nach oben strecken kann, ist unrealistisch. Ein schöner Erfolg in letzter Zeit war eine demente alte Frau mit einer starken Spastik der Armmuskulatur. Die Fingernägel hatten zu schlimmen und stinkenden Geschwüren der Handfläche geführt. Nach drei Monaten sah es schon deutlich besser aus und nach einem halben Jahr waren die Finger zwar noch ziemlich krumm, aber alles war verheilt. Bei einer anderen Patientin war der Hals so schief, dass das Ohr auf der Schulter auflag. Bei den ersten Terminen konnte ich mit der Spritze gar nicht alle Muskeln erreichen, die ich behandeln wollte. Aber in anderthalb Jahren wurde der Kopf Schritt für Schritt relativ aufrecht.
Bei wie vielen Prozent der Fälle tritt eine Besserung ein?
Bei, je nach Erkrankung, durchschnittlich 70 Prozent ist ein merklicher und zufriedenstellender Erfolg erreichbar. Bei ungefähr einem Fünftel wirkt die Behandlung entweder gar nicht oder nur so minimal, dass sich eine Weiterbehandlung nach drei bis vier Versuchen nicht lohnt. Beim Rest heißt es „immerhin besser als vorher". Zusätzlich sollte man wissen, dass es im Lauf der Jahre zu einem Wirkverlust kommen kann, entweder durch Veränderungen des Gewebes oder weil der Körper gegen das körperfremde Toxineiweiß wie bei einer Impfung Antikörper bildet. In letzterem Fall wird das Botulinumtoxin direkt nach dem Spritzen zerstört, bevor es wirken kann und dann hat man meist lebenslang keinen Effekt mehr.
Welche Nebenwirkungen oder Langzeitfolgen können auftreten?
Abgesehen vom kurzen Schmerz durch den Nadelstich ist die häufigste relevante Nebenwirkung, dass sich das Präparat mehr als geplant im Gewebe verteilt und dadurch an den falschen Stellen wirkt. Zum Beispiel kann es sich bei der Behandlung des Lidkrampfs bis zum Lidöffnungsmuskel ausbreiten; dann wird das Auge zwar nicht mehr zugekniffen, aber durch das herunterhängende Oberlid kann man trotzdem schlecht sehen. Im Halsbereich kann es durch Mitbeteiligung der Rachenmuskulatur zu Schluckstörungen kommen und wenn man nicht die geplante Stelle trifft, fehlt natürlich dort die Wirkung. Das sind aber alles vorübergehende Probleme, ein Vorteil der nicht dauerhaften Wirkung von Botulinumtoxin. Meist bestehen die Nebenwirkungen nur für ein paar Tage oder mal zwei Wochen. Langzeitfolgen gibt es eigentlich nur, wenn man mit der Injektionsnadel etwas verletzt, zum Beispiel direkt in einen Nerv sticht. Ich verwende bei den meisten Patienten zur Kontrolle ein Ultraschallgerät. Dadurch kann ich einerseits sehen, wo genau der gewünschte Muskel liegt und andererseits erkenne ich, wo die gefährdeten Strukturen sind. Wenn man eine zu große Dosis für einen Muskel nimmt, dann ist dieser stärker gelähmt als gewünscht, damit ist auch keinem geholfen. Vor dem klassischen Botulismus – der früher häufigen Vergiftung meist durch verdorbene Konservendosen – muss man jedoch keine Angst haben, weil dafür noch sehr viel größere Mengen notwendig wären.
Was sind die neuesten Erkenntnisse über Botulinumtoxin im medizinischen Bereich?
Interessant ist derzeit die Entwicklung von neuen Varianten des Botulinumtoxins. Alle bisher verfügbaren haben genau die Molekülstruktur, wie sie in natürlich vorkommenden Bakterien gefunden wurde. Durch die medizinische Forschung wird daran gearbeitet, durch Veränderungen des Moleküls eine stärkere und vor allem länger andauernde Wirkung zu erreichen oder das Risiko für eine Antikörperbildung zu reduzieren. Damit könnte man den Patienten manche Besuche in der Klinik und die doch manchmal recht starken Schwankungen der Wirkung ersparen. Es ist davon auszugehen, dass es in Zukunft für zusätzliche Erkrankungen eine offizielle Zulassung geben wird. Die Hersteller arbeiten bei manchen Erkrankungen teilweise schon seit Jahren an den bürokratisch notwendigen Voraussetzungen, aber für die ganz seltenen Anwendungsgebiete wird es wohl dabei bleiben, dass man sich für jeden einzelnen Patienten mit der Krankenkasse streitet.