Seit einem Dreivierteljahr dürfen Schauspieler, Künstler, Schausteller und Alleinunterhalter nicht mehr arbeiten. Die Lage ist schon lange angespannt. Jetzt, zum Jahreswechsel, ist sie nur noch trostlos.
Wie immer am Sonntagmorgen steht Maskenbildnerin Rosi (Name geändert) aus Berlin-Wilmersdorf auch am 15. März 2020 zeitig auf. Sie will sich bereits um 8 Uhr mit zwei Freundinnen im Fitnessstudio treffen: „Operation Bikinifigur 2020", also zumindest der Versuch dazu. Doch beim Sport angekommen, steht die 33-Jährige vor verschlossenen Türen.
Im niedersächsischen Osnabrück läutet Debora Belly diesen Morgen mit ausgedehnten Stretch-Übungen ein. Die 42-jährige Trapezkünstlerin muss in Form bleiben, denn in zwei Wochen ist sie mit dem Familienzirkus ihres Vaters auf Ostergastspiel in Goslar. Von Mitte Januar bis Mitte März geht es bei dem Familienzirkus immer etwas ruhiger zu. Da können das Zelt geflickt und Kostüme ausgebessert werden. Debora Belly ahnt an diesem Märztag noch nicht, dass auch die nächsten Monate weiter ruhig bleiben und sich zudem die wirtschaftliche Lage erheblich verschlechtern wird.
Erst am Mittag hört sie im Radio die Nachricht, dass für mindestens vier Wochen alle Kultureinrichtungen und Veranstaltungsorte geschlossen bleiben werden. Also nicht nur ihr Zirkus, sondern auch Theater, Sportstätten, Shoppingmalls – eben all das, was nicht systemrelevant ist.
Die Trapezkünstlerin rechnet in ihrem Taschenkalender nach. Das könnte mit dem Osterzirkus noch irgendwie funktionieren. Wenn man erst zwei Wochen später anfangen kann, dann zieht sich das Arrangement halt bis Anfang Mai.
Der ganze Zirkus liegt auf Eis
Auch Rosi in Berlin ist verärgert, dass ihr Sportstudio bis Ostern geschlossen bleiben muss. Doch die 33-Jährige wähnt sich in der Vorstellung, dass ihr Job als Maskenbildnerin beim Fernsehen ja wohl systemrelevant sei. Wenn die Menschen schon nicht ins Theater oder Kino gehen können, dann wollen sie doch wenigstens zu Hause via Bildschirm unterhalten werden. Und dafür müssen die Fernsehschaffenden auch Content schaffen, also Inhalte.
Ein Trugschluss, wie Rosi bereits am nächsten Tag von ihrer Produktionsfirma erfährt. Denn alle Drehaufträge sind bis auf Weiteres auf Eis gelegt. Ob es nach Ostern wieder losgeht, dazu will sich die Disponentin lieber nicht äußern. Spätestens nach diesem Telefonat, am Montag 16. März, überkommt die sensible Frau eine böse Ahnung. Andererseits, „die können ja nicht über Monate alle Produktionen stilllegen, das geht ja gar nicht. So eine Fernsehproduktion kostet Hunderttausende von Euro, die kann man nicht einfach so aufschieben, dass sagen alle in der Produktion", sagte Rosi Anfang April im FORUM-Gespräch noch verhalten zuversichtlich.
Es ist die Zeit nach Ostern, der Lockdown geht, abgemildert, weiter. Die Geschäfte dürfen zwar öffnen, doch Kinos, Theater, Opernhäuser, Jahrmärkte und auch Bordelle bleiben erst einmal geschlossen. Es ist Frühling, die Sonne lacht, aber Menschenansammlungen sind verboten. Außer bei Demonstrationen, und so geht auch die Künstlerwelt demonstrieren. Diese ersten Zusammenkünfte, vor dem großen Demo-Sturm im Sommer, haben noch Happening-Charakter. Auf dem Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin treffen sich jeden Samstag alle möglichen Menschen. Noch halbwegs unpolitisch, Hauptsache raus auf die Straße. Die Theaterleute, die Jongleure, die Tänzerinnen haben endlich wieder ein Publikum, wenn auch mit gebotenem Abstand. Unter den Corona-Demonstranten ist auch Scarlet in quietschbunter Kleidung. Die Mittdreißigerin kommt aus dem Erotik-Bereich, sie sitzt finanziell ebenfalls seit März auf dem Trockenen, aber auch sie ist sich im Frühsommer noch sicher: „Das wird kein Zustand für immer sein."
Auch Daniel Domdey gibt sich dieser Illusion noch Ende Mai hin. Domdey ist nicht nur der neue Chef des traditionsreichen Berliner Kabaretts „Die Wühlmäuse", er produziert auch für mehrere Fernsehsender im deutschsprachigen Raum große Comedyshows. „Das geht so nicht, denn das halten wir keine weiteren drei Monate durch", gibt sich Domdey dann Ende Juni bei der ersten großen Demonstration gegen das „flächendeckende Arbeitsverbot der Unterhaltungsindustrie" kämpferisch. Die Demo hat er mitorganisiert und ist zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger froh, mit der Organisation wieder eine sinnvolle Aufgabe zu haben. „Doch mit Demos verdiene ich kein Geld, ich will die Hallen und Säle füllen." Wer von den Mitdemonstrierenden will das nicht? Das gilt für alle, egal ob hinter oder vor den Kulissen.
Da ist Diana H. aus Sachsen. Sie arbeitet erfolgreich im Catering-Bereich. Also arbeitete erfolgreich im Catering-Bereich. Bis März galt die Philosophie: Filmproduktionen immer mitnehmen, „denn Backstage mit Essen und Trinken versorgen, das ist locker, planbar und vor allem gibt es Pauschalen vom Veranstalter, die lohnen sich immer." Irgendwann im Spätsommer wurde auch der 52-Jährigen klar: „Ich kann mich freuen, wenn ich noch irgendwo in der Öffentlichkeit eine Bockwurst verkaufen darf."
Die Hygienekonzepte sind hinfällig
Auch Sonia de Oliveira ist Anfang September völlig erschlagen von den Pandemie-Maßnahmen. Sie ist Samba-Tänzerin und wo sie gebucht wird immer ein Hingucker. Spätestens als der Karneval der Kulturen im Sommer abgesagt wird, ist auch Sonia klar: „Hier läuft ein ganzer Prozess jetzt gegen mich. Die wollen nicht, dass ich tanze." Doppeltes Pech für Sonia. Denn in ihre Heimat Brasilien zu ihrer Familie kann sie auch nicht zurück. Brasilien hat seit dem Frühsommer die Grenzen komplett dichtgemacht. Selbst Staatsbürger kommen nicht mehr ins Land. Ein letztes Aufbäumen von Veranstaltern, Theatermachern, Schauspielern, Kinobetreibern, Artisten und Rummelmenschen gibt es Ende Oktober mit einer Großdemonstration vor dem Brandenburger Tor in Berlin. Viele hoffen damals noch, zumindest das Wintergeschäft mitnehmen zu können. Die Weihnachtsmärkte sollten „zu einer Eruption der kulturellen Vielfalt Deutschlands werden", so Thomas Meyer, Vorstandsmitglied im Deutschen Schaustellerverband, Ende Oktober. Längst haben die Schausteller, Theater-, Oper- oder Kinobetreiber zu diesem Zeitpunkt ausgefeilte Hygienekonzepte ausgearbeitet, die in der Praxis während der kleinen Lockerungen im Juli, August und September auch tatsächlich funktioniert haben. Damit, so Mayers Hoffnung, „kommen wir auch übers Weihnachtsfest". Das alles ist seit dem ersten November hinfällig. Viel schlimmer noch: Keiner in der Branche weiß, wie lange die jetzigen Pandemie-Maßnahmen gehen werden. Planung unmöglich. Wiedereröffnung am 10. Januar? Wohl eher nicht. Die Kanzlerin spricht bereits von Mitte oder Ende März.
Aber das ist für die Unterhaltungsbranche mittlerweile auch schon einerlei. Die schweren Kollateralschäden sind unübersehbar. Samba-Tänzerin Sonia de Oliveira ist längst in Hartz IV abgerutscht. Debora Belly kämpft mit ihrem Familienzirkus ums Überleben. Das Futter für ihre Tiere wird seit Monaten von den umliegenden Landwirten aus dem Oldenburger Land gespendet, teilweise durfte sie dort ihre „tierischen Künstler" unterstellen. Erotik-Sklavin Scarlet ist unglücklich in einer Umschulungs-Maßnahme des Arbeitsamtes. Comedy-Produzent Daniel Domdey hat mehrere Formate im Netz entwickelt, die eigentlich per Klickrates funktionieren sollen, es aber doch nicht tun. „Natürlich kann so etwas inhaltlich und umsatzmäßig keine Fernsehshow ersetzen, wir brauchen Publikum vor Ort", gibt sich Domdey Ende November betont nüchtern. Maskenbildnerin Rosi hat bereits Anfang Oktober, „mental einfach nicht mehr die Kraft für dieses ganze Herumsitzen. Ich war Mittelschicht, jetzt bin ich restlos im Arsch", erzählt sie in einem letzten Gespräch mit FORUM. Sie bekommt ebenfalls Hartz IV, ihre Produktionsfirma ist längst insolvent. Das Jobcenter schrieb sie an, sie könne ja auch „ihre zu drei Viertel bezahlte Wohnung verkaufen".
Rosi zog ihre Konsequenzen. Ende Oktober, vor dem verkündeten zweiten Lockdown, verabschiedete sie sich mit zwei Flaschen Wodka und einer Überdosis Schlaftabletten aus dem Leben. „Wer nicht gesendet wird, lebt eben nicht. Egal, ob vor oder hinter der Kamera."