Kaum eine andere Kultursparte wurde durch das Corona-Jahr so erschüttert wie das Theater. Den ersten Lockdown ertrug die Branche stoisch, obwohl das temporäre Berufsverbot die Existenz vieler Freischaffender gefährdete. Im zweiten Lockdown bäumt sich die Szene auf.
Die Vorstellung, an diesem Abend endlich mal wieder „ins Theater zu gehen", hat mich den ganzen Tag beschwingt. Beginn um 20.30 Uhr, Einlass eine Viertelstunde früher. So wie es sich gehört. Im Internet war ich zufällig auf das Programm einer bayerischen Bühne gestoßen, die auch während des November-Lockdowns zu Live-Shows eingeladen hat. Events für Querdenker? Mitnichten. Das „Alte Kino" im oberbayerischen Ebersberg lockt mit digitalen Live-Shows. Während das Publikum zu Hause vor Laptop oder Tablet sitzt, führen Schauspieler, Bühnentechnikerinnen oder Maskenbildner im Theater ihre „Vollbremsung" auf: Sketche und musikalische Einsprengsel, eingebettet in eine Rahmenhandlung, die Bezug auf die aktuelle Lage nimmt. Die Akteure geben vor, im Theater eingesperrt zu sein. Ein Mini-Universum, Isolation, Kontaktbeschränkungen.
Das hatte mich neugierig gemacht. Also klicke ich nachmittags die Theaterkasse an, Tickets kosten zwischen einem und zehn Euro, je nachdem für welche Zuschauerkategorie man sich entscheidet. Da gibt es Karten für „Kulturbegeisterte", für „Stammgäste", „Coronageschwächte" oder „Kurzarbeiter" – ich entscheide mich für den „Probierpreis", überweise zwei Euro plus Bearbeitungsgebühr. Prompt trifft der Eintrittscode im Mailpostfach ein. Kurz vor halb 9 ist alles vorbereitet. Ein Glas Rotwein auf dem Beistelltisch. Gedimmtes Licht. Laptop auf den Knien. Los geht’s. Auf dem Bildschirm öffnen sich zwei Fenster. Hier der Theaterraum. Dort eine Chat-Funktion. Moderierter Smalltalk mit Quizeinlagen soll ein Verbindungsmedium sein, vor allem aber auch die Zuschauer untereinander in Kontakt bringen. Was sich entspinnt, ist seichtes Geplänkel – nicht wirklich packend, aber ein gut gemeinter Versuch, digital das nachzuahmen, was Theater ausmacht und sich von Netflix und anderen Streamingangeboten unterscheidet. Theater ist vielleicht die Kultursparte, die durch die Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung im Corona-Jahr 2020 am härtesten getroffen wurde. Als der erste Lockdown im März Probe- und Spielverbote brachte, hatte sich die Branche stoisch ihrem Schicksal gefügt. Keine Proteste, keine Flashmobs, kein Beharren auf Freiheit der Kunst oder Systemrelevanz. Nach der ersten Schockstarre versuchte die Theaterwelt zunächst einmal das finanzielle Desaster abzuwenden. Ende April konnte man an den kommunalen Theatern, später dann auch an den Staatstheatern, erst mal aufatmen. Der Deutsche Bühnenverein hatte sich mit den Gewerkschaften über Kurzarbeitergeldzahlungen geeinigt. Das brachte Entlastung für die Spielstätten und sicherte vertraglich gebundenen Mitarbeitern zumindest 90 Prozent des Nettogehalts zu. Für die freien Theater, Festival-Veranstalter und Kulturvereine griff diese Lösung nicht. Für sie schnürten Bund und Länder Soforthilfepakete. Vergessen wurden die freien Künstler – Schauspieler, Musiker, Souffleure, Tontechniker und all die anderen Freiberufler der Branche, für die Auftrittsverbote den totalen Verdienstausfall bedeuten. Die von der Politik zugesagten Überbrückungsgelder waren nur für die Deckung von Betriebskosten, nicht aber für den Lebensunterhalt bestimmt. Die freischaffenden Kreativen ließ man schlicht im Regen stehen. Ein kollektiver Aufschrei blieb aus.
Ein kurzes Aufatmen im Sommer
Als der Sommer mit den Lockdown-Lockerungen kam, atmete die Szene auf. Wo immer verfügbar wurden Freiluft-Spielstätten genutzt. Die Dresdner hatten ihren Bärenzwinger, das Deutsche Theater in München den Innenhof. Auf Kampnagel in Hamburg fand sogar das Festival statt. Über mangelndes Zuschauerinteresse konnten Theatermacher nicht klagen. Trotzdem wurden weit weniger Karten verkauft als in normalen Theatersommern. Schließlich galt es allerorten, die Zuschauerzahlen zu reduzieren. Um die Ausgaben zu senken, wurde mit Mini-Ensembles gespielt. So kam man etwa an der Braunschweiger Komödie am Altstadtmarkt mit drei Mimen aus, für „Ich hasse Dich! Heirate mich!", ein uraufgeführtes Stück, das die Liebe in Zeiten von Homeoffice und Isolation thematisiert.
Um den Herbst und den Winter unter Corona-Bedingungen zu stemmen, hatten sich die Theater umfassend gerüstet. Exemplarisch für das neue Theater-Ambiente 2020/21 machte ein Foto aus dem Berliner Ensemble medial die Runde. Ein Zuschauerraum, dem Sitzreihen „gezogen" worden waren, wie faule Zähne aus einem maroden Gebiss. Bange Fragen kamen auf. Würde sich das Publikum unter diesen Bedingungen in die Theater locken lassen, wo man den Mantel auf der Sitzlehne verstauen und Getränke vorab an den Platz bestellen muss, statt eine Garderobe zu nutzen und im Foyer Sekt zu schlürfen? Dennoch war die Branche ambitioniert in die neue Saison gestartet.
Der nächste Tiefschlag kam prompt. Ende Oktober verkündete die Bundeskanzlerin einen weiteren Lockdown, eine Light-Version, die Geschäften grünes Licht gab und Freizeiteinrichtungen indes die rote Ampel zeigte. Dieses Mal löste die Entscheidung des Corona-Kabinetts eine Welle der Entrüstung aus. Vor Wut schäumen ließ Theatermacher vor allem die Tatsache, von der Politik als „Einrichtung zur Freizeitgestaltung" abgekanzelt und damit auf eine Stufe mit Spaßbädern und Bordellen gestellt worden zu sein. Die Intendanten und Intendantinnen der Berliner Bühnen, von der „Bar jeder Vernunft" bis zur „Vagantenbühne", wandten sich in einem offenen Brief an den Regierenden Bürgermeister. Der Besuch der Theater sei für viele Menschen „existenzieller Teil des gesellschaftlichen urbanen Lebens und für dessen Zusammenhalt substanziell", schrieben sie. Die demokratische Gesellschaft „nähre und bilde sich durch kulturelle Teilhabe." Zudem sei „das Gemeinschaftserlebnis der künstlerischen Darbietung ein Gegengewicht zur steigenden Belastung der sozialen Isolation."
Schub für Digitalisierung
Bundesweit „wehrte" sich die Szene mit kreativem Protest. Das Theater in Ulm tapezierte die gläserne Eingangsfront mit den nun hinfällig gewordenen November-Spielplänen. Die Münchner Kammerspiele machten es umgekehrt, öffneten sich, so weit es eben ging, verlegten ihre Proben ins Schaufenster. Die verzweifelte Botschaft – „uns gibt es noch". Gleichzeitig boten vor allem große Häuser Aufzeichnungen von Stücken zum Streaming an. Hochkarätig konnten die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" und die Berliner Volksbühne ihre gemeinsame Protestveranstaltung besetzen. Unter dem Motto „Spielplanänderung" hatte man Schauspieler und Schauspielerinnen eingeladen, im wohl aufregendsten Theater Berlins einen Tag lang aus vergessenen Bühnenstücken zu rezitieren. Ohne Publikum, versteht sich. Aus Wien war die Burgtheater-Schauspielerin Dörte Lyssewski, aus der Schweiz die junge Schauspielerin Gina Haller angereist. Ebenfalls dabei Burghart Klaußner, Schauspieler, Regisseur, Sänger und Autor. Auch Lars Eidinger, seit Jahren einer der bekanntesten Protagonisten der deutschen Theaterlandschaft, war mit von der Partie – ging es doch auch darum, mit dieser von Kultursendern übertragenen Veranstaltung die ins Abseits gedrängte Branche ins Scheinwerferlicht zurückzuholen – mit den Mitteln höchster Schauspielkunst.
Inwieweit der Lockdown eine auch für das Theater überfällige Digitalisierung befördert, darüber streiten die Experten. Theaterkritiker Christian Rakow gehört zu denjenigen, die im Digitalen auch die große Chance sehen, ein bildungsfernes Publikum fürs Theater zu gewinnen. Als Beispiel führt er Ballettaufführungen des Staatsballetts Augsburg an, die auf einem Kanal der Gamer-Szene gestreamt wurden. Theaterferne Gesellschaftsschichten „für die Aura des Originals" zu begeistern, könne durch die neuen Übertragungsmedien gelingen, so Rakows Hoffnung. Für „FAZ"-Redakteur und Autor Simon Strauß dagegen kann digitales Theater nur ein „Trostpflaster" sein. Eindringlich sein Appell an die Theaterszene, der Politik in Zukunft mit noch mehr Selbstbewusstsein entgegenzutreten. Theater sollte seine Existenz nur mit politischer oder wirtschaftlicher Bedeutung rechtfertigen, so Simon bei der „Spielplanänderung" an der Berliner Volksbühne. „Wir haben etwas, was es sonst in der Gesellschaft eben nicht gibt. Wir sind eine Institution des Herzens, der psychologischen Erbauung. Und deswegen sind wir mehr als systemrelevant."