Am 20. Januar vereidigen die USA ihren neuen Präsidenten. Der einstige unverbrüchliche Partner des Westens ist geschwächt, seine demokratischen Institutionen stehen buchstäblich unter Belagerung. Joe Bidens Glaubwürdigkeit wird zuallererst an seiner Corona-Strategie gemessen.
Ein Titelthema über Joe Biden und sein Team war geplant. Doch am Ende schafft Donald Trump es wieder einmal, die Schlagzeilen an sich zu reißen. Roger Stone, sein Berater und Wegbereiter zur Präsidentschaft, sagte, auch schlechte Nachrichten sind Nachrichten, nur darum ginge es. Was aber am 6. Januar in Washington geschah, sind nicht nur schlechte Nachrichten. Sie sind erschütternd für ein Land, dessen moralische Überlegenheit in über 200 Jahren friedlicher Machtübergabe dafür sorgte, dass die USA Kriege im Namen der Freiheit und Demokratie führen konnte – mit Unterstützung der westlichen Welt.
Diese Überlegenheit haben die Vereinigten Staaten am Nachmittag des 6. Januar eingebüßt. Mit dem Sturm auf das Kapitol endet eine unrühmliche, eine erschöpfende, eine antidemokratische Präsidentschaft mit autoritären Zügen. Sie hat die Schwachstellen der US-Verfassung aufgezeigt, die Schwachstellen des gesellschaftlichen Zusammenhalts im Land weiter erodiert, die Schwachstellen im internationalen Gefüge der Supermächte weiter zu Ungunsten der USA verschoben.
Biden steht vor epischer Krise
Donald Trump war angetreten, das liberale Amerika zu zerstören. Je tiefer die Spaltung, desto mehr stärkte er seine eigene Position – die des alleinigen Erretters, um „Amerika wieder groß zu machen". Eine hohle Phrase, die jedoch in seinen Anhängern resonierte. Sie wählten ihn, gerade weil er den Hass auf sich zog, weil er versprach, für all die Enttäuschten Washington in Schutt und Asche zu legen. Gesagt, getan. Mit untrüglichem Instinkt für die Stimmung seines Wählerkollektivs, mit allen Mitteln wollte Trump eine zweite Amtszeit erzwingen – nicht durch einen militärischen Putsch, sondern indem er die Regeln verbog und das System, über das er gebot, gegen Biden in Stellung brachte. Sein vier Jahre lang andauernder Angriff auf die Demokratie scheiterte am Ende vor allem am Widerstand einzelner Mandatsträger in den jeweiligen Bundesstaaten und der Unfähigkeit des Präsidenten, eine kohärente Strategie zu verfolgen.
Seine Anhänger wollen das nicht hinnehmen – und werden es auch in Zukunft nicht. Es brauchte keine eindeutigen Worte, um den Sturm zu entfachen. Trumps Instinkt muss ihm gesagt haben, dass nur noch ein bisschen mehr Öl im Feuer ausreicht, um seine Anhänger, die ihn teils messianisch verehren, zur Gewalt zu treiben. Und er sah im Fernsehen zu, wissend, dass die Erstürmung des Kapitols Balsam auf die Seelen all jener war, die sich durch den gesellschaftlichen Wandel abgehängt und von der Politik ausgegrenzt fühlen. Und Balsam auf seine eigene Seele, die sich mit der Niederlage abfinden muss und es nicht kann.
Drinnen lief die zeremonielle Anerkennung von Joe Bidens Wahlsieg, nachdem das Kapitol wieder geräumt war, weiter. Der 78-Jährige ist angetreten, Amerika wieder zu heilen – angesichts des epischen Ausmaßes der Krise, in dem sich sein Land befindet, eine schier unmögliche Aufgabe. Sein Team steht sinnbildlich für ein Land im demografischen Wandel. Ein Team von Experten und Polit-Profis, die auf gleich mehrere Krisen treffen, wie sie das Land noch nie gesehen hat. Das Coronavirus fordert täglich über 4.000 Todesopfer im Land, Krankenwagen lassen mittlerweile Sterbende zurück, weil die Zahl der Krankenhausbetten nicht mehr ausreicht. Mit dem Impfstoff kehrt Hoffnung zurück, mehr Leben retten zu können. Die Distribution des Vakzins wird ein Gradmesser für Gerechtigkeit in einem Land voller Ungerechtigkeit, in dem Afroamerikaner und Latinos überdurchschnittlich häufig an Covid-19 sterben. Dann die wirtschaftlichen Folgen, eine verheerend hohe Arbeitslosigkeit und ein Staat, der durch die großzügige Steuerreform Trumps, die Corona-Hilfen, aber auch durch steigende Sozialabgaben auf eine Rekordverschuldung zusteuert. Die sicherheitspolitische Krise, ausgelöst von Chinas Plan, bis 2050 zur größten Weltmacht aufgestiegen zu sein. Trumps Außenpolitik hat Probleme nicht gelöst, sondern nur verlagert: der US-Abzug in Syrien ließ dem Bündnis zwischen Baschar Assad und Russland freie Bahn; die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt kappte die Gespräche mit den Palästinensern; die vermittelte Anerkennung Israels durch die Vereinigten Arabischen Emirate oder Marokko war nur durch Geld, milliardenschwere Waffenlieferungen und vom Tisch gewischte jahrzehntelange diplomatische Gespräche zu erreichen; dass diese Länder zudem den vom Atomabkommen entfesselten Iran fürchten, ist alleine Trumps „Verdienst"; und das Treffen mit Nordkoreas Diktator war nichts weiter als ein PR-Stunt.
Demokratie unter Belagerung
Und schließlich die gesellschaftspolitische Krise, die sich in einer nie dagewesenen hasserfüllten Spaltung des Landes manifestierte und schlussendlich im Sturm auf das Kapitol Luft verschaffte. Joe Biden ist der Erbe eines Landes, das vielen Verbündeten, das uns Europäern in vielerlei Hinsicht seltsam fremd geworden ist in den vergangenen Jahren: als überalterte Wirtschaftsmacht, als kampfesmüde Supermacht, als unsicherer transatlantischer Partner. Daran wird auch Joe Biden nichts ändern können. Ihm wird daran gelegen sein, das Vertrauen seiner eigenen Landsleute in den Staat wieder zu festigen – auch mithilfe einer US-zentrierten Außenpolitik, die immer auch Strahlkraft nach innen besitzt. Denn das Vertrauen in die demokratischen Institutionen ist nicht zuletzt durch Trumps Erosionstaktik zutiefst verletzt.
Dennoch bleibt jener Gewaltausbruch am 6. Januar keiner, der für sich alleine steht. In Paris verhinderte ein Großaufgebot der Polizei, dass die Gelbwesten-Bewegung den Élysée-Palast wie angekündigt stürmte. In Deutschland reichten drei beherzte Polizisten noch aus, um das Eindringen von Rechtsextremen und Reichsbürgern in den Berliner Reichstag auf den Treppen aufzuhalten. Die Demokratie steht unter Belagerung in zahlreichen Ländern. Verteidigen muss sie Europa nun alleine. Der Kampfeswille der USA ist erst einmal gebrochen.