Jeder Bundesbürger belastet die Atmosphäre mit rund elf Tonnen Treibhausgasen pro Kopf und Jahr – deutlich mehr als im weltweiten und im EU-Durchschnitt. CO2-Kompensationen könnten diese Bilanz ausgleichen, aber auch sie sind umstritten.
In einem Wäldchen neben dem Flughafen Münster-Osnabrück, dem FMO, wiegen sich auf einem Hektar Land frisch gepflanzte Stieleichen, Rot- und Hainbuchen im Wind. Über dem Gelände brummt ein Propellerflieger. Im Hintergrund rauschen Autos über die nahe Bundesstraße. Sonst ist es coronabedingt ruhig am FMO – einem der vielen Regionalflughäfen, die wegen der Pandemie in die roten Zahlen geraten sind.
Bis Ende 2019 sind die Passagierzahlen hier, wie an anderen Airports, nur gestiegen. 2018 waren weltweit 4,3 Milliarden Passagiere mit dem Flieger unterwegs, 6,1 Prozent mehr als im Vorjahr. 2018 sind 123 Millionen Menschen von deutschen Flughäfen gestartet. Das macht etwa 1,5 Flüge pro Einwohner, vier Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die Treibhausgasemissionen aus dem zivilen Flugverkehr stiegen weltweit von 2013 bis 2018 um mehr als 26 Prozent.
Trotzdem geben sich weltweit immer mehr Flughäfen als Klimaschützer: Kochi im indischen Bundesstaat Kerala produziert mit Solaranlagen nach eigenen Angaben mehr Strom, als er selbst verbraucht. London-Heathrow wollte seinen CO2-Ausstoß bis 2020 um 34 Produzent reduzieren und Stuttgart setzt auf „100 Prozent erneuerbare Energien".
„Wir wollen bis 2030 klimaneutral werden", sagt FMO-Sprecher Detlef Döbberthien mit Blick auf das Wäldchen. Der Trick: CO2-Kompensation. Treibhausgasemissionen, die an einer Stelle – zum Beispiel durch den Betrieb eines Flughafens – entstehen, holen andere an anderer Stelle wieder aus der Atmosphäre – etwa indem sie Bäume pflanzen, die Kohlenstoffdioxid aus der Luft binden und in Sauerstoff und Biomasse umwandeln. Klingt einfach, ist es aber nicht: Im Schnitt braucht ein Baum 30 Jahre, bis er 500 Kilogramm CO2 gebunden hat. In der Zeit könnte er vertrocknen, von Schädlingen aufgefressen werden oder abbrennen. Die Investition des Flughafens FMO sind ein offener Scheck auf die Zukunft. Niemand kann sicher sagen, ob, wann und in welcher Höhe er eingelöst werden wird.
Deshalb setzen viele Anbieter von CO2-Kompensationen auf andere Wege, klimaschädliche Emissionen auszugleichen. Auf der Internetseite des gemeinnützigen Unternehmens Atmosfair kann man sich den CO2-Ausstoß eines Fluges mit ein paar Klicks ausrechnen lassen. Für eine Reise von München nach New York mit einem Airbus A340-500 in der Economy-Klasse macht das 2,658 Tonnen CO2. Ein Durchschnittsmensch in Indien verursacht 1,6 Tonnen, ein durchschnittlicher deutscher Autofahrer zwei Tonnen. Wer möchte, kann die Emissionen des Fluges direkt auf der Atmosfair-Seite für 62 Euro „ausgleichen".
Das Geld fließt in Emissionsschutz-Projekte im Ausland. Denn jede Tonne CO2 kostet 23,32 Euro. Die Bundesregierung berechnet jede Tonne CO2 mit 25 Euro. Das Umweltbundesamt kommt dagegen auf mindestens 180 Euro. Wer rechnet richtig?
Michael Bilharz bearbeitet das Thema beim Umweltbundesamt. Er unterscheidet zwischen „Schadenskosten" und den „Vermeidungskosten". Erstere entstehen durch Extremwetter, Dürre und andere Folgen der Klimakrise an Gebäuden, Straßen, Schienenwegen, Küsten und in der Landwirtschaft. Vermeidungskosten sind dagegen die Summe, die man aufwenden muss, um eine Tonne CO2 irgendwann wieder aus der Atmosphäre holen zu lassen.
Um diese möglichst gering zu halten, investieren die meisten Kompensationsanbieter in Afrika, Südasien und Lateinamerika. Atmosfair zum Beispiel kauft von seinen Einnahmen energiesparende Öfen oder kleine Biogas-Anlagen für afrikanische Familien auf dem Land. Diese kochen damit ihr Essen und fällen somit weniger Bäume wegen des Feuerholzes. Atmosfair-Geschäftsführer Dietrich Brockhagen schätzt, dass diese Öfen um „80, 90 und mehr Prozent energieeffizienter" seien als die traditionellen Holzkochstellen der Dorfbewohner. Die Projekte sollen so einen doppelten Nutzen bringen: Entlastung fürs Klima und bessere Lebensbedingungen für Menschen in den Partner-Ländern. Andere Anbieter wie Myclimate oder die Klima-Kollekte arbeiten ähnlich.
Ausgleichen mit ein paar Klicks
Ende 2017 hat die Stiftung Warentest sechs Anbieter von CO2-Kompensationen getestet. Atmosfair, die Klima-Kollekte und Prima Klima erhielten ein „sehr gut". Von den zahlreichen Standards, die es inzwischen für Kompensationsanbieter und -Projekte gibt, stellt der Goldstandard die höchsten Anforderungen. „Auf diesen sollte man achten", empfiehlt Stefan Fischer von der Stiftung Warentest. Entscheidend ist für ihn, „wie transparent die Organisation" sei und wer sie wie kontrolliere. Die Einhaltung der strengeren Kriterien des Gold- und der anderen Standards müssen allerdings geprüft werden. Der Aufwand schlägt sich im Preis für die Kompensation von einer Tonne CO2 nieder, ebenso die höheren Ansprüche an die Projekte. Viele Angebote unter 15 Euro pro Tonne sind für die meisten Fachleute unseriös.
Zu kompliziert? Hier hilft der Verein „3 fürs Klima". Über dessen Internetseite kann man seinen CO2-Fußabdruck mit ein paar Klicks kompensieren. Dazu arbeitet der Verein mit sieben Anbietern zusammen: Atmosfair, Myclimate, Prima Klima, Fairventures, der Klimakollekte, EG Solar und den Compensators.
Die Compensators, ebenfalls ein gemeinnütziger Verein, gehen einen ganz eigenen Weg: Sie kaufen von den Spendeneinnahmen CO2-Zertifikate. Die Vorschriften des europäischen Emissionshandels sehen vor, dass Unternehmen einiger Branchen Verschmutzungsrechte kaufen müssen, bevor sie Treibhausgase in die Luft abgeben. Je mehr dieser Zertifikate man ihnen wegkauft, desto schneller steigt der Preis. Die Luftverschmutzung wird teurer. Alternativen werden im Verhältnis dazu billiger und die Treibhausgasemissionen gehen zurück. Bisher fallen die Käufe der Compensators noch nicht ins Gewicht. Es sind noch zu wenige. Auf der Internetseite kann man sich aussuchen, an wen „3 fürs Klima" die Spenden weiterleitet oder die Auswahl dem Verein überlassen.
Damit es noch schneller geht, haben die Aktiven von „3 fürs Klima" die Klimawette gestartet. Bis zum nächsten Weltklimagipfel im November kommenden Jahres wollen sie eine Million Menschen dazu bringen, jeweils mindestens eine Tonne CO2 zu kompensieren. Michael Bilharz, Mitgründer von „3 fürs Klima" und der Klimawette, will mit seinen Initiativen auch eine politische Botschaft senden: die eigenen Treibhausgasemissionen reduzieren, die übrig gebliebenen Emissionen kompensieren und andere zum Mitmachen bewegen.
Umstritten sind die Kompensationen dennoch. Jutta Kill hat rund 15 dieser Projekte in mehreren Ländern besucht. Überzeugt haben sie nur wenige. Die Biologin kritisiert, dass die Anbieter mit hypothetischen Zahlen rechneten. Niemand wisse genau, welches Projekt in welcher Zeit wie viel CO2 aufnehme. Auch könne man nicht genau sagen, wie viel CO2 weiterhin ausgestoßen würde, wenn das jeweilige Projekt nicht stattgefunden hätte. Angenommen, eine afrikanische Familie bekommt einen holzsparenden Ofen und kocht deshalb nicht mehr auf offenem Feuer: Niemand weiß genau, wie lange der Ofen funktioniert, wie lange er tatsächlich verwendet wird und wie lange die Familie wie viel Holz in einem offenen Feuer verbrannt hätte, wenn sie den Ofen nicht bekommen hätte.
Noch entscheidender ist für Jutta Kill, dass die Kompensationsanbieter ein scheinbar gutes Gewissen verkaufen. Wer sich von seinem CO2-Ausstoß zum Beispiel nach einem Flug freikaufen kann, ist weniger motiviert, solche Flüge in Zukunft zu vermeiden. Und: Dem Klima bringt es wenig, wenn Kompensationszahlungen Projekte finanzieren, die auch ohne die Zahlung gemacht würden. Entscheidend ist also, dass aus den Kompensationszahlungen zusätzliche Projekte verwirklicht werden.
Deshalb verkauft Peter Kolbe von der Klimaschutz-Plus-Stiftung in Heidelberg lieber ein schlechtes als ein gutes Gewissen. Man könne seine Flüge und anderen klimaschädlichen Verhaltensweisen nicht kompensieren, sagt er. Deutlich macht er das mit einem Vergleich: „Wenn ich Gift in einen Wald kippe, kann ich das doch nicht damit lösen, dass ein anderer das da irgendwann wieder herausholt und erst recht nicht, wenn der, der es herausholen soll, einen Dritten beauftragt, der sich damit Jahrzehnte Zeit lässt." Das sei die Logik der CO2-Kompensation.
Nur ein scheinbar gutes Gewissen
Kolbe will stattdessen, dass wir jetzt Verantwortung für unser Handeln übernehmen: Dazu müssten wir die Folgekosten unseres Wirtschaftens bezahlen, sprich internalisieren. Aktuell produziert derjenige am billigsten, der die Folgekosten seines Tuns nicht in seine Produktpreise einrechnet. Er wälzt diese externen Kosten auf die Allgemeinheit oder künftige Generationen ab. Wer die Umwelt belastet, ohne dafür zu bezahlen, verschafft sich so einen Wettbewerbsvorteil. Mehr noch: In vielen Fällen bezuschussen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Das zeigen die jüngst beschlossenen Milliardensubventionen aus der gemeinsamen EU-Agrarpolitik GAP für umweltzerstörende Großbetriebe in der Landwirtschaft oder die staatlichen Beihilfen für Flughäfen.
Um dem entgegenzuwirken, empfiehlt Kolbe eine freiwillige CO2-Abgabe von 180 Euro je Tonne Kohlendioxid. Wer nicht so viel bezahlen könne, sei auch mit einer kleineren Spende willkommen. Die Stiftung finanziert damit Solar- und Windkraftanlagen in Deutschland sowie Energiespar-Projekte. Diese werfen eine Rendite ab, die die Stiftung zusammen mit fünf Prozent ihres Stiftungskapitals jährlich an einen Fonds überweist. Dieser finanziert Bürgerprojekte. Jedes Jahr bestimmen die Spenderinnen und Spender in Onlineabstimmungen selbst, was mit dem Geld für die lokalen Bürgerfonds passiert.
Peter Kolbe, im Hauptberuf Energieberater beim Rhein-Neckar-Kreis, arbeitet wie alle anderen bei Klimaschutz Plus ehrenamtlich für die Stiftung. So halten alle Beteiligten den Verwaltungsaufwand gering. Die Einnahmen kommen fast vollständig im Klimaschutz an. Sie sollen Kohle, Gas und andere fossile Energieträger aus unserem Versorgungssystem verdrängen. Die Ergebnisse mehrerer Umfragen bestärken Kolbe auch darin, in Klimaschutz in Deutschland zu investieren – obwohl es hier teurer ist als etwa in Afrika. In einer Studie des Umweltbundesamts zum Umweltbewusstsein gab die Mehrheit der Befragten 2017 an, dass sie sich vor allem Klimaschutz in Deutschland wünschen.
Den Trend nutzen auch immer mehr Unternehmen. Sie lassen CO2-Bilanzen für ihren Betrieb oder einzelne Produkte oder Dienstleistungen erstellen. Diese bewerben und verkaufen sie dann als „klimaneutral". In vielen Chefetagen hat sich die Erkenntnis herumgesprochen, dass die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen auch die Existenz der Unternehmen, ihrer Lieferanten, Mitarbeiter und Absatzmärkte bedroht.