Sie gilt als größte Fotoausstellung ihrer Art: „Family of Man", eine Schau, die seit 1994 komplett im Schloss Clervaux in Luxemburg zu sehen ist. Meisterwerke der Dokumentarfotografie werden dabei von poetischen Texten und Zitaten von Dichtern und Denkern flankiert.
Stolz thront Schloss Clervaux auf einer Felsnase über dem gleichnamigen Ort in den waldreichen Ardennen. Im Zweiten Weltkrieg wurde das heutige Nationaldenkmal im Norden Luxemburgs am 18. Dezember 1944 während der berüchtigten Ardennen-Offensive von der Deutschen Wehrmacht in Brand gesteckt und schwer zerstört. Bis in die 90er-Jahre hinein dauerten die Rekonstruktionsarbeiten an dem imposanten Festungsschloss. 1974 dann konnten in dem wuchtigen Gebäude zunächst Teile der epochalen Foto-Sammlung „The Family of Man" des Fotografen Edward Steichen (1879 – 1973) vorgestellt und seit 1994 komplett gezeigt werden. Steichen hatte sie 1955 ursprünglich für das berühmte Museum of Modern Art in New York, das MoMA, konzipiert. Die Ausstellung ist die größte ihrer Art und wurde in den 60er-Jahren auf Wunsch Steichens dem luxemburgischen Staat vermacht.
„Es gibt nur einen Mann auf der Welt und sein Name ist Alle Männer. Es gibt nur eine Frau auf der Welt und ihr Name ist Alle Frauen. Es gibt nur ein Kind auf der Welt und sein Name ist Alle Kinder."
Statt New York wurde Luxemburg Ausstellungsort
Diesem Text steht man als Besucher der Ausstellung gleich zu Beginn gegenüber. Das Zitat stammt von Carl Sandburg, Pulitzer-Preisträger und Schwager von Edward Steichen. Der hieß eigentlich Edouard Jean Steichen und war gebürtiger Luxemburger. Zwei Jahre war er alt, als die Eltern mit ihm 1881 nach Amerika auswanderten. In beiden Weltkriegen arbeitete er als Kriegsfotograf für die US-Armee. 1947 wurde der überzeugte Pazifist mit über 60 Jahren Direktor des Dokumentar-Bild-Archivs des Museum of Modern Art in New York. Anlass für die Erschaffung seines Meisterwerks, der „Family of Man", der „Familie der Menschheit", war das 25-jährige Jubiläum des MoMA. Aus rund vier Millionen gesammelten Fotografien wählten Steichen und sein Team 503 Werke für das epochale Projekt aus.
Gaby Wenkin, eine der Ausstellungsspezialistinnen von Schloss Clervaux, führt regelmäßig durch die auf drei Etagen verteilte Sammlung. Auf dem Rundgang erzählt sie, dass dieser genau dem ursprünglichen im MoMA folgt. Gleich am Anfang der Ausstellung faszinieren zwei Fotografien: Der runde Babybauch einer Frau und ein gerade geborener Säugling in den Händen des Arztes. Das Leben beginnt – der Anfang von allem. Gaby Wenkin weiß mehr über den Background der Fotos, denn erklärt werden die meisten der Bilder nicht. „Wayne Miller war ein sehr guter Freund von Edward Steichen, und das ist sein Sohn, der zur Welt kommt, und der Großvater ist der Doktor. Also ein echtes Familienfoto, was man eigentlich zu Hause der Familie oder ein paar Freunden zeigt, aber nicht Hunderttausenden Besuchern in einem öffentlichen Museum."
Im prüden Amerika der 50er-Jahre waren Millers Fotos ein absoluter Schock. Erst der auch noch nackte Schwangerschaftsbauch von Ehefrau Laura, (so was versteckte man damals unter Rüschen), dann der schleimverschmierte, noch gar nicht abgenabelte Säugling! Äußerst realistische und – ein Begriff, der sich überhaupt erst im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts herausbildete – dokumentarische Fotografien des menschlichen Lebens.
Die 32 Themenblöcke des Ausstellungs-Parcours erzählen von Liebe, Lachen, Tanzen, Arbeit oder Hunger. Das ikonografische Foto von Steichens guter Freundin Dorothea Lange, der Queen der frühen Dokumentarfotografie, zeigt ihre „Migrant Mother". Es ist eine verhärmte junge Landfrau mit ihren zwei hungrigen Kindern während der Großen Depression in Amerika, die da skeptisch in Langes Kamera schaut. Insgesamt wählte Steichen Material von 273 Künstlern aus 68 Ländern aus. Er selbst steuerte nur fünf Fotografien bei.
Liebe, Tanzen, Arbeit – 32 Themen
Zeit für Gaby Wenkins ganz persönliche Lieblingsfotos. Das erste, von Arthur Witmann, entstand 1952 in einer Kleinstadt in Indiana und zeigt Menschen, die in einer Cabaret-Show sitzen. „Wie verschieden die Charakterzüge der Menschen sind, auch wenn sie gemeinsam etwas anschauen, ist faszinierend! Und da oben sind meine Freunde mit den Hüten, die schon ein Gläschen getrunken haben. Mit denen würde ich gern mal diskutieren", lacht die Ausstellungsexpertin. Und bezieht sich auf ein Foto des Schweizer Fotografen Werner Bischof, er machte die Aufnahme 1947 in einem Gasthof in der Puszta. Nur die wenigsten der Fotografien haben Titel; selten gibt es Jahreszahlen. Steichen wollte damit jedem Besucher die Möglichkeit geben, eigene Assoziationen in Gang zu setzen, sich Gedanken über die Geschichte hinter dem Foto zu machen.
Versehen ist die Schau in Clervaux mit den Textzitaten von Dichtern und Denkern, die das Team um Steichen damals in New York ausgewählt hatte. Der Abschnitt zum Thema Einsamkeit etwa ist mit einem poetischen Zitat des chinesischen Dichters Lui Chi übertitelt: „Ich bin allein mit dem Schlagen meines Herzens."
Ob in China, in Ungarn, den USA oder in Deutschland – im Grunde genommen sind wir alle Teil der Family of Man, der Menschheitsfamilie. Fast am Ende des Parcours hängt als ewige Warnung das Bild eines Atombombentests auf dem Bikini-Atoll 1952. Wie alle Fotos der Ausstellung ist es in Schwarz-Weiß abgezogen. Das allerletzte Bild des Rundgangs aber stammt vom U.S.-Kriegsfotografen Eugene Smith. Es zeigt seine eigenen Kinder, die ins Licht laufen, teilt Gaby Wenkin mit und betont: „Die Endbotschaft ist nicht die Zerstörung der Welt, die Atombombe! Sondern die Hoffnung für die nächste Generation, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft."
2003 wurde die Ausstellung „Family of Man" zum Weltdokumentenerbe der Unesco erklärt.