Die beiden nach Umfrageergebnissen stärksten Parteien werden auch die kommende Regierung stellen – das scheint sicher zu sein. Wie kann aus Konfrontation Kooperation werden?
Den Ausgang der Bundestagswahlen zu prognostizieren – vier Monate vor dem 26. September 2021 –, das wird angesichts der hohen Wählerflexibilität (im Osten mehr als im Westen) in den vergangenen Jahren immer schwieriger. Nun kommen neue Aspekte hinzu. Zum ersten Mal tritt keine Person mit einem Kanzlerbonus an. Ferner sind durch die Corona-Pandemie Aussagen ohnehin mit einer größeren Unsicherheit versehen. Kommt sie den Parteien zugute, die „das Sagen“ gehabt haben – oder gerade umgekehrt jenen, die in der Opposition waren? Die Antwort dürfte wesentlich davon abhängen, wie die Bürger zum Zeitpunkt der Wahl das Krisenmanagement empfinden. Und das weiß heute niemand.
Was hingegen nach der Bundestagswahl wahrscheinlich ist, wenngleich nicht sicher: die Bildung einer schwarz-grünen (wie in Hessen) beziehungsweise einer grün-schwarzen Koalition (wie in Baden-Württemberg). 2013 war für die beiden Kräfte eine arithmetische Mehrheit da, aber keine politische, 2017 eine politische, aber keine arithmetische. Nunmehr dürfte die eine wie die andere Mehrheit vorliegen. Beide Parteien kämpfen um den ersten Platz. Gegenwärtig sieht es nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Armin Laschet und Annalena Baerbock aus. Für die Union spricht, dass sie bei den Wahlen seit 2009 immer klar auf den ersten Platz kam. Die Bürger geben ihr die Stimme, weil Deutschland mit einer unionsgeführten Regierung in den vergangenen Jahren gut gefahren ist. Was für die Grünen spricht: Nach einer 16-jährigen unionsgeführten Regierung, die mitunter zu Verdruss führt, könnte eine Wechselstimmung zugunsten der Partei entstehen, die das Thema Klima auf ihre Fahne geschrieben hat. So scheint Bündnis 90/Die Grünen eher den „Zeitgeist“ zu repräsentieren als die Union.
Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und Grünen
Die gegenwärtige Situation ist für beide Parteien nicht einfach. Auf der einen Seite nehmen sie die jeweils andere politische Kraft als Hauptgegner wahr, müssen diese also entschieden bekämpfen, um nicht als Juniorpartner in die Regierung zu geraten. Insofern ist Konfrontation unvermeidlich. Auf der anderen Seite wissen sie: Nach der Bundestagswahl ist wahrscheinlich Kooperation angesagt. Daher bietet sich ein gedeihlicher Umgang an. Konflikte sind zwar unvermeidlich, aber sie dürften angesichts der Ausgangslage keine zerstörerischen Folgen annehmen.
Die Situation ist für die beiden Parteien noch aus einem anderen Grund nicht ganz einfach. Sie kommen schließlich nicht aus dem gleichen politischen Lager, die einstigen Anti-68er und die Fürsprecher der 68er. Die Grünen haben die Gesellschaft zwar verändert, aber diese hat auch die Grünen verändert. Der natürliche Koalitionspartner der Union ist die FDP, der natürliche Koalitionspartner der Grünen die SPD. Zwar haben sich die Gegensätze zwischen der Union und den Grünen durch ein beidseitiges Aufeinanderzugehen abgeschliffen, aber gleichwohl gibt es Unterschiede, nicht nur in habitueller Hinsicht. Das gilt am stärksten für die Umwelt-, die Wirtschafts- und die Innenpolitik, am wenigsten für die Außenpolitik, auch wenn es hier Streit über das Ziel der Nato gibt, zwei Prozent des Bruttosozialprodukts für Verteidigungsausgaben vorzusehen (die Union unterstützt dies, Bündnis 90/Die Grünen weniger): Beide Parteien sind klar westlich und neigen nicht dazu, Putins Russland mit Milde zu betrachten. Auch in der Finanz- und Bildungspolitik dominieren die Schnittmengen. Die „Realisten“ der Union dürften mit den „Moralisten“ der Grünen klarkommen. Die weltanschaulichen Gegensätze von einst sind längst nicht mehr so stark. Allerdings dürfte es bei Themen „krachen“, die für die „harte“ Politik weniger entscheidend sind: bei kulturellen Themen wie dem Feminismus oder der Identitätspolitik. Der jüngst verabschiedete Koalitionsvertrag in Baden-Württemberg kam zwar ohne Gendersternchen aus, aber gilt das auch für den im Bund? Schwarz-Grün wird keine „Liebesheirat“ sein, sondern eine „Vernunftehe“. Gewiss, die CDU hat sich unter Angela Merkel beträchtlich verändert (Gleiches gilt für die CSU unter Söder), doch gibt es Stimmen in ihr, die für einen stärkeren Kurswechsel stehen. Dies gilt etwa für den beim Kampf um den Parteivorsitz zweimal knapp unterlegenen Friedrich Merz, der zur Mannschaft von Armin Laschet gehört. Und umgekehrt streben bei den Grünen Kräfte ein Dreierbündnis ohne die Union an, weil sie dann die stärkste Kraft wären. Die Union wirft Teilen von Bündnis 90/Die Grünen eine Bevormundungs-, ja Verbotskultur vor, diese der Union eine Politik, die es am nachhaltigen Klimaschutz ebenso missen lasse wie an Diversität.
In den alten Ländern wünschen viele Bürger ein schwarz-grünes beziehungsweise ein grün-schwarzes Bündnis, das Aufbruch verspricht und bei Besserverdienenden und Gutgebildeten auf Akzeptanz stößt. Hingegen dürften die neuen Länder nicht so begeistert sein, weil sie befürchten, eine solche Koalition vernachlässige soziale Themen. Im Osten ist die Fixierung auf den Staat, der es schon richten werde, nach wie vor verbreitet, die Orientierung am Subsidiaritätsprinzip eher unterentwickelt. Dem Ausgang der letzten Landtagswahl vor der Bundestagswahl, am 6. Juni in Sachsen-Anhalt, sehen die Strategen der Union und der Grünen mit Besorgnis entgegen. Dort sind sie mit der SPD in einer Koalition, die nur mehr schlecht als recht funktioniert hat.
Es kann auch alles ganz anders kommen, doch würde sich an einer Regierungsbeteiligung der Grünen nichts ändern: Sollte Schwarz-Grün wider Erwarten keine Mehrheit erlangen, wäre ein Bündnis unter Einschluss der FDP die Konsequenz. Es gäbe zwei andere Varianten: Die Grünen bilden ein Bündnis mit der SPD und der FDP (Ampel-Koalition), oder sie ziehen ein grün-rot-rotes-Bündnis vor. Doch eine schwarz-grüne Koalition unter der Führung der Union ist das wahrscheinlichste Szenario. Der gegenwärtige Hype um die Grünen dürfte bald nachlassen. Die Erfahrung lehrt: Sie schneiden in den Umfragen meistens besser ab als in den Wahlen. Dass eine Partei, die das letzte Mal nur 8,9 Prozent und damit auf dem sechsten Platz rangierte, diesmal zur stärksten Kraft avanciert, widerspricht dem hiesigen Wahlverhalten, ungeachtet der momentan überaus guten Werte. Und dass die Union, wohl die letzte Volkspartei, unter 25 Prozent fällt, ist ebenso eine kühne Annahme, wiewohl sie diesmal nicht mehr mit dem Kanzlerbonus punkten kann.
Statt „Liebesheirat“ wird es eher eine „Vernunftehe“
Im Herbst 2021 hat Deutschland – sehr wahrscheinlich – wieder eine Große Koalition. Aber dieses Bündnis der beiden stärksten Parteien ist nicht mehr das alte. SPD und FDP werden wohl ohne Machtoption sein wie die beiden Randparteien Die Linke und die AfD. Bündnis 90/Die Grünen muss sich nun auf Bundesebene in einer für sie neuen Konstellation behaupten, wobei es für sie nicht sinnvoll wäre, die Strategie der SPD fortzusetzen: eine Art Opposition in der Regierung. Und die Union hat in der Nach-Merkel-Ära die schwierige Aufgabe, inhaltliche Kontinuität mit einem personellen Neuanfang zu versöhnen. Beide Parteien stehen damit vor großen Herausforderungen.