Wegen Störungen in den globalen Lieferketten fehlt es der Industrie an Teilen und Material. Das macht viele Produkte teurer und könnte die wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie gefährden.
Die Coronakrise hat weltweit zu Problemen in den Lieferketten geführt. Die Störungen in den Produktions- und Logistikketten haben auch deutsche Unternehmen in Mitleidenschaft gezogen: In fast der Hälfte der deutschen Industriebetriebe fehlt es an Teilen oder Materialien, wie eine Umfrage des Münchner Ifo-Instituts ergeben hat. Der Anteil betroffener Firmen war in den vergangenen 30 Jahren nicht einmal annähernd so hoch wie jetzt.
Seit Monaten belastet der Chipmangel die Wirtschaft. Die Lieferengpässe bei Halbleitern schlagen auf viele Unternehmen durch und sorgen für Produktionsstopps und Lieferverzögerungen. Am deutlichsten zeigt sich der Mangel in der Autobranche. Wegen fehlender Halbleiter-Chips haben Autobauer wie Ford, Audi, VW oder Daimler in den vergangenen Wochen und Monaten bereits die Fertigung in einzelnen Werken ausgesetzt oder drosseln müssen. Auch einzelne Stahlwerkstoffe sind derzeit ebenfalls schwerer zu beschaffen, wie es vom Verband der Automobilindustrie heißt. Im ersten Halbjahr werde daher die Autoproduktion in Europa etwas niedriger als geplant ausfallen.
Von den pandemiebedingten Störungen des Welthandels ist auch die Fahrradbranche betroffen. Ein großer Prozentsatz der Fahrradteile und auch viele Rahmen werden in Ostasien gefertigt. Insbesondere bei Verschleißteilen wie Bremsbelägen, Ketten, Kettenrädern und Ritzeln für die Gangschaltung kommt es laut Deutscher Presse-Agentur zu Lieferschwierigkeiten.
Auf Deutschlands Baustellen hat sich der Materialmangel in den vergangenen Wochen laut Ifo-Institut dramatisch verschärft. Im Hochbau berichteten im Mai demnach über 40 Prozent der befragten rund 800 Firmen über Probleme bei der rechtzeitigen Beschaffung von Baustoffen. Vor allem bei Schnittholz, Dämm-Materialien und verschiedenen Kunststoffen kam es zu Lieferengpässen. Dies führte in den vergangenen Wochen zumindest vorübergehend zu einer Beeinträchtigung der Bautätigkeit. Die Verknappung an Baumaterialien hat zu explodierenden Preisen geführt, insbesondere bei Baustahl, Bauholz und bei Kunststoffen, wie etwa Dämmstoffen und Folien. Es drohen Baustopps oder Kurzarbeit in den Handwerksbetrieben.
Auch die deutschen Speditionen klagen über enorme Kapazitätsengpässe. Nach einem insgesamt konstanten Mengenverlauf in den Jahren 2019 und 2020 stieg das Transportvolumen im März und April 2021 im Vergleich zu den Vorjahresmonaten um bis zu 20 Prozent, in Einzelfällen sogar noch darüber, so der Bundesverband Spedition und Logistik (DSLV). Die Systemlogistik führt die Engpässe zum einen darauf zurück, dass es bei Industrie und Handel immer noch Nachholbedarf aus dem vergangenen Jahr gebe. Zum anderen beleben sich der Export und der Konsum, wodurch der Online-Handel weiter beschleunigt wird.
Die Gründe für den Materialmangel sind vielfältig. Um es auf den Punkt zu bringen: Eine sprunghaft gestiegene Nachfrage trifft auf ein stark reduziertes Angebot. Weltweit waren die Produktionskapazitäten pandemiebedingt heruntergefahren worden. Nach den massiven Ausfällen durch den Wintereinbruch in weiten Teilen der USA gab es Verzögerungen beim Wiederanfahren von Raffinerien, Petrochemie-Komplexen und den nachgelagerten Polymer-Produktionslinien. Synthetische oder halbsynthetische Polymere sind die Hauptkomponente für die Herstellung von Kunststoffen wie zum Beispiel Polyethylen, das in erster Linie für Verpackungen benötigt wird.
Der Bundesverband der Süßwarenindustrie warnte deshalb vor einem Mangel an Verpackungsmaterial. Die ausbleibenden Lieferungen wirken sich vor allem für die Verpackungen von Süßwaren, Tiefkühlprodukten und anderen Lebensmitteln wie Fleisch, Fisch, Geflügel und Käse aus. Trotzdem bleibe die Versorgung mit verpackten Produkten überwiegend gewährleistet, zitiert der „Tagesspiegel" einen Branchensprecher.
Im Bereich der Mikrochips sind die Auswirkungen des Schneesturms in Texas im Februar immer noch spürbar. Damals mussten Halbleiter-Produzenten wegen Stromausfällen ihre Chip-Produktionsstätten schließen. Im März legte ein Brand bei Renesas, Japans größtem Hersteller für Auto-Chips, die Produktion lahm.
China heizt die Nachfrage nach Rohstoffen an
Auf der Nachfrageseite treibt China den Bedarf von Rohstoffen nach oben. Bei den Halbleitern wurde die Knappheit unter anderem von der gestiegenen Nachfrage nach Elektronik in der Corona-Pandemie ausgelöst. Weltweit hatten Unternehmen auf digitales Arbeiten umgestellt und Laptops beschafft, Schulen haben mit Rechnern und Tablets nachgerüstet. Deshalb hatten die großen Chiphersteller in der Coronakrise auf Halbleiter für Verbraucherelektronik wie Computer und Smartphones umgestellt, um die gestiegene Nachfrage zu decken. Das Nachsehen haben die Autobauer.
Verschärft wird die Situation durch einen Mangel an Schiffscontainern. Der Einbruch des Welthandels zu Beginn der Covid-19-Pandemie und die sprunghaft angestiegene Nachfrage führten zu teils chaotischen Situationen im Frachtgeschäft, verlautete der Gesamtverband Kunststoffverarbeitende Industrie (GKV). So seien Container in den falschen Häfen gestrandet. Auch die Folgen der Blockade des Suezkanals im März durch ein auf Grund gelaufenes Containerschiff machen sich bemerkbar. Das knappe Angebot und die starke Nachfrage nach Frachtkapazitäten haben die Containerpreise auf der Strecke Asien-Europa seit Ende 2020 um mehr als 400 Prozent ansteigen lassen.
Verbraucher müssen deshalb mit längeren Lieferzeiten und vor allem mit steigenden Preisen rechnen. Wegen der gestiegenen Nachfrage im Elektronikbereich waren kräftige Preissteigerungen schon in den letzten Monaten zu beobachten, zum Beispiel für Webcams, aber auch für PCs, Smartphones oder Drucker, wie eine Untersuchung des Verbraucherportals Testberichte.de ergeben hat.
Ein Ende der angespannten Rohstoffsituation ist vorerst nicht in Sicht. Die sich abzeichnende wirtschaftliche Erholung nach dem Lockdown sehen Experten deshalb gefährdet. Viele Halbleiter-Hersteller haben zwar angekündigt, ihre Produktionskapazitäten auszuweiten. Trotzdem dürfte sich zumindest kurzfristig keine spürbare Entspannung bei der Versorgung mit Elektronikbauteilen einstellen. Der Chip-Riese Intel hatte jüngst gewarnt, die Engpässe könnten mehrere Jahre andauern.
Die EU-Kommission will als Lehre aus der Pandemie generell bei strategisch wichtigen Produkten unabhängiger von Importen werden und den europäischen Markt krisenfester machen. Deshalb wollen Deutschland und Frankreich eine geplante europäische Halbleiter-Allianz vorantreiben. Dazu riefen Wirtschaftsminister Altmaier und sein französischer Amtskollege Bruno Le Maire ein Milliarden-Förderprojekt ins Leben, nach dem Vorbild des bereits existierenden Projekts zum Aufbau einer europäischen Batteriezellenfertigung für Elektroautos. Davon könnte insbesondere der bayerische Dax-Konzern Infineon, einer der weltweit größten Halbleiterhersteller, profitieren.