Mithilfe eines gegen Diabetes bereits zugelassenen Medikaments konnten krankhaft Übergewichtige bei einem Experiment ordentlich Gewicht abbauen – im Schnitt unglaubliche 15,3 Kilogramm in gut zwei Monaten.
Trotz aller Body-positivity-Bekenntnisse, wonach jeder Körper schön sein kann, gilt in der westlichen Welt noch immer ein schlanker Torso als anzustrebendes Schönheitsideal (von gesundheitlichen Vorteilen ganz zu schweigen). Das zu erreichen ist allerdings angesichts der wachsenden Lust auf Gaumenfreuden jeder Art und dem Widerstreben gegen beschwerliche sportliche Aktivitäten alles andere als leicht. Logisch, dass clevere Pharmakonzerne hier längst einen lukrativen Markt für Produkte entdeckt haben, die ein bequemes und sicheres Abnehmen versprechen. Die angepriesenen Mittelchen sind letztlich ebenso wirkungslos wie die Vielzahl der Diät-Anleitungen, die wegen des Jo-Jo-Effektes und des häufigen Verzichts auf eine begleitende professionelle Ernährungsberatung keinen dauerhaften Verlust der überflüssigen Pfunde gewährleisten können.
Für den „Normalbürger" kann ein ästhetischer Schönheitsmakel entstehen, bei krankhaft Übergewichtigen kann sich ein gravierendes Gesundheitsproblem entwickeln. Adipositas oder Fettleibigkeit ist längst zu einer Volkskrankheit geworden – und damit auch zu einem hohen Risikofaktor für die Entwicklung sogenannter Zivilisationskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Beschwerden, Fettstoffwechselstörungen, Bluthochdruck, Diabetes mellitus oder Arthrose.
Ab einem Body-Mass-Index (BMI) von 30 spricht die Weltgesundheitsorganisation WHO von einer Adipositas, die als chronische Ernährungs- und Stoffwechselerkrankung definiert ist. Bisherige Versuche, die Fettleibigkeit medikamentös zu behandeln, hatten sich in der jüngsten Vergangenheit als überaus riskant erwiesen. Amphetamine waren mit Suchtgefahren verbunden. Der mit den Amphetaminen verwandte Appetitzügler Fenfluramin musste wegen Herztoxizität vom Markt genommen werden, ebenso wie zuletzt der Sattmacher Lorcaserin wegen eines erhöhten Krebsrisikos. Auch elektronische Appetithemmer, die auf an der Magenwand angebrachten Mikro-Implantaten beruhen, haben bislang noch keine durchschlagenden Gewichtsreduktions-Erfolge erzielen können.
Auch Prä-Diabetiker wurden überprüft
Unerwartete Hilfestellung erhielt der Kampf gegen Adipositas in den letzten Jahren durch eine neue Klasse von Medikamenten gegen Diabetes Typ 2, unter dem 90 Prozent aller Diabetiker leiden. Denn nach Verabreichung der zur Behandlung der Zuckerkrankheit zugelassenen Wirkstoffe wie Liraglutid (als Medikament unter der Bezeichnung Victoza im Handel) oder Semaglutid (Medikamentenbezeichnung: Ozempic) konnte bei den Patienten als durchaus erwünschter Nebeneffekt auch eine Gewichtsreduktion festgestellt werden. Für den dänischen Hersteller dieser beiden Medikamente, Novo Nordisk, Grund genug, die mögliche gewichtsreduzierende Wirkung der Inhaltstoffe auch bei Nicht- oder Noch-Nicht-Diabetikern (sogenannte Prä-Diabetiker, bei denen der Blutzuckeranteil schon über dem Normalwert liegt) überprüfen zu lassen. Novo Nordisk hat denn auch eine Studie auf Basis des Wirkstoffs Semaglutid finanziert, an der 1961 Probanden mit deutlichem Übergewicht an 129 Standorten in 16 Ländern beteiligt waren. Die Ergebnisse seiner Forschungen veröffentlichte das Team um Prof. John P. H. Wildung von der Universität Liverpool und Prof. Rachel L. Batterham vom University College London Mitte März 2021 im Fachmagazin „The New England Journal of Medicine".
Die Studienteilnehmer wurden im Verhältnis 2:1 in zwei Gruppen aufgeteilt. Die erste Gruppe musste sich über den Untersuchungszeitraum von 68 Tagen einmal wöchentlich selbst mit einem Pen den Wirkstoff Semaglutid ins Unterhautfettgewebe injizieren, bei der zweiten Gruppe kamen Placebos zum Einsatz. Die Semaglutid-Dosierung betrug 2,4 Milligramm, womit sie eineinhalb Mal höher war als bei der üblichen Verabreichung gegen Diabetes. Zusätzlich wurden sämtliche Probanden zu individuellen Beratungsgesprächen gebeten, um sie zur Wandlung ihres Lebensstils, zur Änderung ihrer Essensgewohnheiten und zu sportlichen Betätigungen (mindestens 150 Minuten pro Woche) zu animieren. Aber es sollte sich herausstellen, dass mit der Lebensstil-Umstellung allein nur eine sehr begrenzte Abnehmwirkung erzielt werden konnte.
Ablesbar war das an der Placebo-Gruppe, deren Teilnehmer über den gut zweimonatigen Versuchszeitraum im Schnitt gerade mal 2,4 Prozent an Körpergewicht verloren hatten, im Schnitt 2,6 Kilogramm. Wohingegen die Probanden der Semaglutid-Gruppe ihr Körpergewicht im Schnitt um stolze 14,9 Prozent reduzieren konnten und dabei durchschnittlich 15,3 Kilogramm an überflüssigen Pfunden verloren. Dank Semaglutid konnte ein Drittel der damit behandelten Probanden mehr als 20 Prozent des Körpergewichts verlieren. Der Großteil der Semaglutid-Probanden, nämlich 86,4 Prozent, schaffte mehr als fünf Prozent Gewichtsreduktion, immerhin 69,1 Prozent sogar mindestens zehn Prozent Abnahme. Dem folgte auch eine deutliche Verbesserung von gesundheitsgefährdenden Risikofaktoren wie Blutdruck, Blutfett- oder Blutzuckerwerten.
„Dies ist wirklich ein Gamechanger"
Die Nebenwirkungen der Semaglutid-Verabreichung beschränkten sich im Wesentlichen auf gelegentliches Auftreten von Übelkeit und Durchfall, nur vereinzelt wurden Gallenprobleme oder eine leicht-akute Bauchspeicheldrüsenentzündung registriert. Bei Semaglutid handelt es sich um einen sogenannten GLP-1-Rezeptor-Agonisten (auch als blutzuckersenkendes „Inkretin-Mimetikum" bekannt), um synthetisch hergestellte Polypeptide, die wie das natürliche Darmhormon GLP-1 an spezielle Rezeptoren anbinden können. Semaglutid kann die Wirkung des Darmhormons nachahmen und dadurch die Betazellen der Bauchspeicheldrüse zur Ausschüttung von Insulin veranlassen, die Ausschüttung des Blutzuckerspiegel steigernden Peptidhormons Glucagon hemmen sowie durch Drosselung der Magenentleerung den Appetit zügeln.
Die an der Studie beteiligten Wissenschaftler sehen Semaglutid als Meilenstein im Kampf gegen Adipositas an. Novo Nordisk hat daher bereits entsprechende Zulassungsanträge in den USA bei der FDA und in Europa bei der EMA eingereicht. „Die Ergebnisse dieser Studie", so Prof. Rachel Batterham, „stellen einen wichtigen Durchbruch für die Verbesserung der Gesundheit von Menschen mit Adipositas dar. Kein anderes Medikament hat diesen Gewichtsverlust annähernd erreicht – dies ist wirklich ein Gamechanger. Zum ersten Mal können Menschen durch Medikamente das erreichen, was bisher nur durch einen operativen Eingriff möglich war."
Schade nur, dass Normalbürger mit leichtem Übergewicht oder unschönen Speckröllchen dieses Wundermittel von ihrem Hausarzt in absehbarer Zeit wohl kaum verschrieben bekommen werden können.