Als während des monatelangen Lockdowns keine Theatervorstellungen stattfinden konnten, erfand Gerd Normann das coronasichere „Showfenster". Jetzt hat er es in eine mobile Freilichtbühne verwandelt.
Es ist einer dieser wenigen recht kühlen Frühsommerabende, und eigentlich zu frisch, um sich in einem Park eine Open-Air-Theatervorstellung anzusehen.
Dennoch haben sich im Stadtpark Lichtenberg mehr als 40 Menschen zwischen fünf und 75 Jahren versammelt. In langen Hosen, in Übergangsjacken oder langärmeligen Pullovern sitzen sie auf Bierbänken oder auf einem Mauervorsprung vor einer kleinen Freilichtbühne. Eine Frau hat es sich sogar auf einem eigens mitgebrachten Campingstuhl bequem gemacht. Der eine oder andere hat sich ein Getränk mitgebracht. Und die beiden anwesenden Hunde liegen ihren Besitzern brav zu Füßen, geben kein Geräusch von sich, als der Moderator die Gäste begrüßt. Es ist Showtime. Das Mini-Revue-Varieté-Theater feiert an diesem Abend seine Premiere.
Balkanpop und Puppenspiel
Für Stimmung sorgt unter anderem ein Frauen-Duett, zwei Künstlerinnen, die sonst überwiegend Soloprogramme gestalten. Doch jetzt stehen „The Cat’s Back" und „La Mona" wieder einmal gemeinsam auf der Bühne. Die beiden Frauen zeigen ein facettenreiches Programm aus Balkanpop, französischen Chansons, Jazz-Balladen und Flamencotanz. Dann kündigt Moderator Gerd Normann die nächste Künstlerin an, nicht ohne einen eigenen Beitrag gekonnt einzuflechten. Er trage jetzt das erste Gedicht aus einem Zyklus vor, erzählt der aus dem Sauerland stammende Wahlberliner. „Das Gedicht handelt von einem Schleichenlurch an einer Autobahnüberführung bei Cloppenburg", beginnt er in trockenem, unverkennbar westfälisch klingendem Tonfall. Was durchaus ankommt. Die ersten Zuschauer glucksen bereits, als der reimende Moderator behauptet, er habe sieben Jahre an diesem einen Kurzgedicht geschrieben. Und da es sich ja um einen Zyklus handelt, gibt Gerd Normann weitere „Zwergfellgedichte" zum Besten. So erfahren die Gäste von den Abenteuern schleichender, kriechender, hüpfender Kreaturen, von Regenwürmern, Feuersalamandern und Kröten. „Ich nenne diese Vierzeiler auch Gehweg-Gedichte", erzählt Normann und richtet sein Mikrofon. „Die habe ich extra für das Showfester entwickelt, damit die Leute im Vorbeigehen das ganze Gedicht mitkriegen können." Der Moderator hat nicht nur das Programm für das mobile Mini-Revue-Varieté-Theater entwickelt und die Bühne selbst mitgebaut, sondern auch das Showfenster-Projekt erfunden.
Angefangen hat alles im November 2020 vor dem monatelangen Lockdown für die Kulturlandschaft. Gerd Normann suchte nach Auftritts- und Verdienstmöglichkeiten für Bühnenkünstler und Sängerinnen. Der auch als Optiker arbeitende Dichter kam auf die Idee, darstellende Künstler im Schaufenster des Geschäfts auftreten zu lassen. „Meine Chefin war sofort dabei", erzählt Normann. „Das war alles hinter der Glasscheibe und damit coronakompatibel." Durch eine Kulturförderung des Senats gelang es ihm, die Showfenster-Bühne auch mit der notwendigen Licht- und Tontechnik auszustatten. Mehrmals in der Woche verwandelte sich das Schaufenster des Brillengeschäftes in eine Kleinkunstbühne. Das Publikum, das draußen auf der anderen Seite des Glases stand, war begeistert. Und es kamen weitere Schaufensterbühnen hinzu. So spielte das wechselnde Ensemble auch bei „Brille und Glas" an der Lehrter Straße und im Schuhladen „Creme fraîche" an der Kastanienallee.
Mini-Revue in Berliner Parks
Als im Frühjahr abzusehen war, dass bald Aufführungen unter freiem Himmel möglich sein würden, kam der kreative Kopf auf die Idee der mobilen Bühne. „Ich dachte, da brauchst du nur einen festen Untergrund und ein, zwei Bühnenelemente." Und so geschah es dann auch. Ende Mai war es im Stadtpark Lichtenberg schließlich so weit.
Drei Wochen nach der Premiere gastiert die kleine mobile Theaterbühne im Weinbergspark neben dem Restaurant „Nolas". Es ist ein warmer, fast heißer Juniabend in Berlin-Mitte. Diesmal sitzen mehrere Kinder im Grundschulalter unter den Gästen. Ihre Blicke richten sich auf Clarissa Zockovic, eine lebensgroße Puppe im Rollstuhl. Frau Zockovic ist eine alte, pflegebedürftige Dame mit glamouröser Kleidung, violettfarbenem Lidschatten und einer dominanten, krächzenden Stimme. Begleitet wird die exzentrische Diva mit der spitzen Zunge von ihrer sanftmütigen Pflegerin Nikki. Die Puppenspielerin Nicole Weißbrodt bringt das Kunststück zustande, mit Clarissa Zockovic und Nikki in zwei Rollen gleichzeitig zu schlüpfen. Vor allem in Clarissa Zockovics Figur pulsiert so viel Temperament, dass man hin und wieder meinen könnte, die Puppe sei ein echter Mensch. Für musikalischen Schwung sorgt an diesem Abend das Musiker-Trio der Hot Swing Al Forno Jazz Band mit sommerlichen Swing- und Jazztönen. Dann tritt die Diseuse Lina Lärche im glitzernden Paillettenkleid auf die Bühne. Erst plaudert sie noch scheinbar harmlos von ihrer Busenfreundin, bis sie plötzlich eine Ménage-à-trois besingt. Natürlich mit dem Freund der Freundin. Und wie das Lied „Polyamor" schon ahnen lässt, taucht eine Handvoll weiterer Männer auf, deren Vornamen die Sängerin durcheinanderbringt. Um Leidenschaft geht es auch in ihrem nächsten Stück. „Kann ein Riegel Sünde sein?", fragt sich Lina Lärche und startet in eine Collage von Zarah Leanders Klassiker, Edith Piafs Chanson „Non, Je ne regrette rien" und einem Hip-Hop-Stück. „Kommen Sie wieder", sagt Gerd Normann am Ende der Veranstaltung. Der imaginäre Vorhang fällt, die Minibühne wird erst einmal wieder abgebaut. Bis zum nächsten Mal an einem warmen Sommerabend in einem Berliner Park.