Wie eine Achterbahn waren die letzten eineinhalb Jahre für Berlins Tanzkompagnien und freie Gruppen. Auf die Bühne. Lockdown. Wieder auf die Bühne – und erneut Lockdown.
Seit Frühjahr 2020 gab es keine öffentlichen Aufführungen des Staatsballetts – mit kurzzeitigen Ausnahmen. „Mit der Zeit war die Situation zermürbend", erinnert sich Pressesprecherin Corinna Erlebach. Mit den Lockerungen der letzten Wochen hat aber wenigstens ein ungewöhnlicher Auftritt stattfinden können – das Ballett tanzte auf einem Ausflugsschiff, das quer durch Berlin tuckerte. Mit viel Abstand zum Publikum am Ufer.
Die Folgen des Lockdowns für die Ensemblemitglieder seien nicht auf den ersten Blick sichtbar, erzählt Corinna Erlebach. „Das Problem ist, dass durch die eingeschränkten Probebedingungen ihre professionelle körperliche Fitness leidet. Ballett ist eine Kunstform und gleichzeitig Leistungssport. Um anspruchsvolle Choreografien auf höchstem Niveau tanzen zu können, brauchen Tänzerinnen und Tänzer nicht nur ein tägliches Training, sondern auch regelmäßige Proben. Zudem ist eine Karriere beim Ballett kurz, die Zeit auf der Bühne ist sehr begrenzt. Durch die Corona-Krise ist ihnen bereits ein Jahr davon verloren gegangen." Das sei eine große seelische Belastung.
Zu Hause auf einem zwei Meter großen Teppich geprobt
Schon beim ersten Lockdown hatte das Staatsballett wie viele Unternehmen auch rasch auf eine digitale Variante umgestellt. Training also vor dem Bildschirm. In der Küche oder in einem beengten Wohnzimmer mit Spitzenschuhen auf einem normalen Boden, auf Dielen oder Auslegware zu tanzen, ist aber keine leichte Sache. „So organisierten wir, dass alle Ensemblemitglieder zugeschnittene Stücke Tanzteppich mit zu sich nach Hause bekamen. Sie probten daheim auf einem 1,50 mal zwei Meter großen Rechteck. Doch das ist kein Vergleich zum Balletttraining im großen Studio, das an der Stange beginnt und mit großen Sprüngen diagonal durch den Saal endet."
Nach zwei Monaten konnten sich die derzeit 91 Tänzerinnen und Tänzer wieder live treffen. Sie teilten sich in acht Gruppen auf und trainierten separat über den Tag verteilt, um zu verhindern, dass sie sich begegnen. Proben zu neuen Projekten, Stücken und Aufführungen im Hinblick auf die Öffnung von Theatern fanden unter Einhaltung der vorgeschriebenen Distanz und Hygienemaßnahmen statt. CO2-Messgeräte in jedem Saal prüften die Raumluft und zeigten den richtigen Zeitpunkt an, wann die Fenster zu öffnen waren.
Von August bis Oktober des vorigen Jahres dann ein Aufatmen. In der Deutschen Oper Berlin wurden Galaprogramme gespielt, in der Komischen Oper ein Abend mit Choreografien der Ensemblemitglieder. Im Oktober kam „Giselle" in der Choreografie von Patrice Bart nach Coralli und Perrot auf die Bühne der Staatsoper Unter den Linden. Die Choreografie wurde als eine Art Corona-Version erarbeitet, angepasst an die aktuell erforderlichen Infektionsschutzmaßnahmen. Giselle und Albrecht und einige weitere Tänzerinnen und Tänzer wurden vor jeder Aufführung getestet. Im November kam dann der nächste Lockdown. Am meisten machte den Ensemblemitgliedern die Ungewissheit zu schaffen, wie es weitergehen würde. Manche aber nutzten die Zeit, um sich neue, erweiternde Bewegungspraktiken wie Yoga zu erschließen oder sich eingehender mit grundlegenden Sinnfragen auch im Zusammenhang mit ihrem künstlerischen Schaffen auseinanderzusetzen.
Durchlebte und erlebte Momente in dieser besonderen Zeit hat die Cie. Toula Limnaios, eine in Berlin ansässige zeitgenössische Tanztheater-Kompagnie mit ihrem visuellen Tagebuch „inmitten" verarbeitet. Wie ein Zeuge blättert das Tagebuch mit dem Blick hinter die Kulissen durch verschiedenste Improvisationen des Ensembles. Vier Frauen, vier Männer, schwarz gekleidet. Vor einer leeren Wand. Wie ist Umarmung möglich? Wie nah kann ich jemanden sein, wie weit muss ich mich entfernen. Was darf ich berühren, den Arm, die Schulter? Wer gibt den Abstand vor? Der andere oder ich? Wie zeigt sich Distanz?
Die Körper der Tänzerinnen und Tänzer, verschraubt, verbogen, verdreht in den Gelenken, erscheinen als Selbstschutz. Wie Fremde in der Fremdheit. Allmählich werden die Gestalten zerbrechlich, haltlos. Zugleich immer wieder suchend, erforschend, was möglich ist, ohne sich selbst und die Gemeinschaft zu verlieren. Die Arme spannen sich auf wie Flügel, erheben sich in den weiten Raum des Machbaren.
Zwei Perspektiven, die untrennbar sind
Es sind Licht und Schatten, die die Coronakrise ausmachen. Woher kommen diese Schatten, die sich nicht einfangen lassen, was ist ein Körper ohne Schatten, was für eine Wirkkraft hat er?
Diesen Fragen geht das neue Stück von Toula Limnaios „clair obscur" nach. „Da das Werk unter Corona-Bedingungen aufgeführt werden sollte, haben wir uns überlegt, dass wir ein Bühnenbild kreieren, in dem nicht alle gemeinsam auf der Bühne stehen, sondern durch Schleiernetze, sogenannte Gaze, voneinander getrennt sind", erklärt Ralf Ollertz, Komponist und Co-Direktor der Halle Tanzbühne Berlin. So verwandelt sich die Halle in einen zweigeteilten Bühnenraum, der eine Teil kann ohne den anderen nicht existieren. Und so will Cie. Toula Limnaios dieses Stück auch sehen: zwei Perspektiven, untrennbar und doch einzeln wahrzunehmen.
Die Zuschauer blicken also durch die Gaze hindurch auf die Tänzerinnen und Tänzer, sehen sie deutlicher, ganz nah und weiter weg, je nach Beleuchtung mit Tiefe oder Entfernung. „Dieses Arbeiten mit Licht und Schatten gleicht dem Bild eines Doppelgängers. Es wirkt wie ein Spiegelbild vom Spiegelbild vom Spiegelbild", meint Ralf Ollertz, der auch die Musik komponiert hat.
„Auch hierbei ging es vor allem um Schatten, um Überlagerung, um Transparenz mancher Tonsequenzen. Einige hört man vordergründig, andere wie hinter dem Schleier versteckt. So gingen aus einem Ursprungsklang durch ständige Wandlungen neue Klanggenerationen hervor, die alle miteinander zu tun haben und doch eigenständig für sich stehen."