Renten, Mieten und Spritpreise – alles orientiert sich an der Inflationsrate. Spätestens an der Ladenkasse entkommt ihr keiner. Gunther Schnabl, Professor für Wirtschaftspolitik an der Uni Leipzig, erklärt, warum die einen profitieren und die anderen die Verlierer sind.
Herr Schnabl, die gefühlte Inflation in der Eurozone liegt eigentlich immer weit über der offiziell gemessenen. Wie kommt es, dass die Leute die Teuerung stärker empfinden als es die Zahlen des Statistischen Bundesamts ausdrücken?
Dafür gibt es zwei Begründungen. Die erste ist, dass Menschen Preissteigerungen subjektiv viel stärker wahrnehmen als Preissenkungen. Die zweite Begründung ist, dass die statistischen Behörden den Verlust von Kaufkraft bei der Inflationsmessung nicht ausreichend erfassen. Das könnte beispielsweise an der Qualitätsanpassung liegen. Wenn beispielsweise ein Computer leistungsfähiger ist oder ein Mobiltelefon eine neue Funktion hat, dann wird der Preis in der offiziellen Statistik heruntergerechnet. Das unabhängig davon, ob man die Neuerung braucht. Manche Güter wie eigengenutzte Immobilien, deren Preise zuletzt stark gestiegen sind, werden gar nicht erfasst.
Die Statistiker beschreiben immer einen gemischten Warenkorb, um die Geldentwertung zu schätzen. Warum ist dieser Wert so wichtig?
Erstens ist für die Kaufkraft der Menschen entscheidend, wie sich die Löhne im Vergleich zu den Preisen entwickeln. Steigen die Löhne beispielsweise um drei Prozent und die Preise um zwei, dann steigt die Kaufkraft der Menschen um ein Prozent. Steigen hingegen die Preise schneller als die Löhne, dann sinkt die Kaufkraft. Die Inflationsmessung bestimmt deshalb maßgeblich die öffentliche Wahrnehmung von Kaufkraftveränderungen. Würde die Inflation höher gemessen, dann würden mehr Menschen einen Verlust von Kaufkraft beklagen. Zweitens orientiert sich die Anpassung von Renten und Sozialleistungen an den offiziell gemessenen Inflationsraten. Werden diese geringer gemessen, dann fallen die Erhöhungen von Renten und Sozialleistungen geringer aus. Der Staat spart Geld.
Ein bisschen Inflation schadet nicht, sagen die Experten. Würde man das rumdrehen, hieße es, stabile oder sinkende Preise sind nicht gut für die Wirtschaft. Wie kommt das?
Inflation ist schlecht für die Wirtschaft, da die Unsicherheit für die Unternehmen steigt und die Kaufkraft der Menschen fällt. Denken Sie beispielsweise an die Bauunternehmen, die den Kunden Festpreise versprochen haben und nun mit steigenden Preisen für Baumaterial konfrontiert sind. Mit wachsender Unsicherheit gehen die Investitionen der Unternehmen und damit das Wachstum zurück. Ob fallende Preise einen negativen Einfluss auf das Wachstum haben, ist umstritten. Manche argumentieren, dass die Konsumenten ihre geplanten Käufe verschieben, wenn sie fallende Preise erwarten. Ich glaube nicht, dass Menschen beispielsweise ein Fahrrad ein Jahr später kaufen, nur weil sie eine Preissenkung um ein oder zwei Prozent erwarten. Ich glaube vielmehr, dass fallende Preise gut für die Konsumenten sind und diese bei sinkenden Preisen mehr kaufen.

Nützt der Staat die Inflation, um seine Schulden abzubauen?
Die Staatsschulden haben in den meisten Euro-Staaten ein sehr hohes Niveau erreicht. In Italien liegt der öffentliche Schuldenstand bei fast 160 Prozent der Wirtschaftsleistung. Grundsätzlich gibt es drei Wege, Staatsschulden abzubauen: Höhere Steuern, Ausgabenkürzungen und Inflation. Es scheint, dass Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen bei Politikern unbeliebt sind, weil sie auf Widerstand stoßen. Wenn hingegen die Notenpresse läuft, dann kann die Staatsverschuldung durch steigende Preise durch die Hintertür abgebaut werden. Allerdings ist eine Finanzierung der Euro-Staaten durch die Europäische Zentralbank (EZB) nach den Verträgen zur Europäischen Union eigentlich verboten.
Bei so vielen Milliarden Schulden – wer hat denn da noch die Übersicht?
Schuldenstände können leicht gemessen werden. Die Staatsverschuldung in Deutschland liegt derzeit bei fast 2.300 Milliarden Euro oder etwa 27.500 Euro pro Kopf. Es ist auch deutlich, dass die EZB bereits große Anteile der ausstehenden Staatsschulden aufgekauft hat, im Umfang von etwa 3.500 Milliarden Euro. Sehr unübersichtlich ist hingegen, wer eigentlich von dem großen zusätzlichen Ausgabenspielraum profitiert, den die EZB den Regierungen schafft. Infolge der Corona-Krise sind die sehr reichen Menschen noch viel reicher geworden. Die großen deutschen DAX-Unternehmen stehen erstaunlich gut da. Gibt es da nicht einen Zusammenhang …
Und die Verbraucher zahlen die höheren Preise, also sind sie indirekt an der Tilgung der Schulden beteiligt?
Ich sehe vier wichtige Kanäle, wie die Verbraucher indirekt an der Tilgung der Schulden beteiligt werden. Erstens steigen die Preise in den Geschäften und damit auch die abgeführte Mehrwertsteuer. Zweitens folgen auf Preiserhöhungen auch Lohnerhöhungen, sodass die Einnahmen aus der Einkommenssteuer wachsen. Drittens steigen schon seit Langem aufgrund der niedrigen Zinsen die Immobilienpreise. Auf Immobiliengeschäfte erhebt der Staat Steuern. Viertens drückt die EZB die Zinszahlungen der Staaten, was diesen zusätzliche Ausgabenspielräume schafft.
Offensichtlich schädigt die Inflation vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen – aber auch die Mittelklasse?
Bei Inflation steigen oft zuerst die Energie- und Lebensmittelpreise. Weil Menschen mit geringen Einkommen einen Großteil ihrer Einkommen für Lebensmittel und Energie ausgeben, sind diese besonders stark betroffen. Die Mittelschicht verfügt über hohe Spareinlagen bei den Banken. Diese werden aufgrund der Geldpolitik der EZB nicht mehr verzinst und durch die Inflation entwertet. Zudem führt Inflation dazu, dass die Unternehmen weniger investieren und deshalb die Produktivitätsgewinne abnehmen. Da die Produktivitätsgewinne die Grundlage für Lohnerhöhungen sind, kommen insbesondere die Löhne der Mittelschicht unter Druck.
Welche Auswirkungen hat die Inflation auf die Außenwirtschaft, also Import/Export?
Wenn aufgrund steigender Preise für Vorprodukte wie Holz oder Stahl die Produktionskosten steigen, dann sinkt einerseits die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und die Exporte gehen zurück. Andererseits wird die Inflation durch eine sehr expansive Geldpolitik der EZB erzeugt. Die großen export-orientierten Unternehmen profitieren davon, weil die EZB ihre Finanzierungskosten niedrig hält. Zudem wird der Euro abgewertet, sodass deutsche Güter im Ausland billiger werden.
Ohne EZB keine Inflation – wie lange wird sie den Markt weiter mit neuem Geld fluten?
Seit Ausbruch der europäischen Finanz- und Schuldenkrise im Jahr 2008 kauft die EZB im großem Umfang Staats- und Unternehmensanleihen. Deshalb wächst die Bilanz der EZB rasant. Ein Ende der Geldschwemme ist auch deshalb nicht in Sicht, weil die Staaten im südlichen Euroraum sehr hoch verschuldet sind. Würde die EZB die Zinsen anheben, dann wären Länder wie Italien und Griechenland wohl bankrott und der Euro könnte auseinanderbrechen. Deshalb dürfte die Geldschwemme noch lange weitergehen.
Wann ist damit zu rechnen, dass die Zinsen wieder steigen?
Das ist schwer absehbar. Die Verschuldung ist in vielen Eurostaaten sehr hoch und steigt weiter an. Im Zuge des Corona-Krisenmanagements wurden alle gesetzlichen Mechanismen ausgesetzt, die die Staatsverschuldung im Euroraum begrenzen sollten. Die Regierungen im Euroraum haben noch mehr Ausgabenverpflichtungen geschaffen. Jetzt soll das Klima gerettet werden. Deshalb werden in naher Zukunft keine Zinserhöhungen erwartet. Das ist gefährlich für alle, die ihre Ersparnisse in Bargeld oder als Einlagen bei den Banken halten. Dem Anstieg der Preise an der Ladenkasse kann sich keiner entziehen.