Mit seinem epochalen Hauptwerk „Emile" hatte Jean-Jacques Rousseau 1762 erstmals das gesellschaftliche Bewusstsein für eigenständige Kinderrechte geweckt. Doch erst 1989 sollte die völkerrechtlich verbindliche „UN-Kinderrechtskonvention" verabschiedet werden.
Ausgerechnet ein Mann, der seine eigenen fünf leiblichen Nachkommen gleich nach deren Geburt in ein Findelhaus abgeschoben hatte, um ungestört seinen philosophischen Grübeleien nachzugehen, gilt als pädagogischer Revolutionär. Jean-Jacques Rousseau hatte in seinem 1762 erschienenen Opus magnum „Emile" eine fortschrittliche Erziehungstheorie entworfen und für die Literatur die Kindheit als eigenständige Lebensphase entdeckt. Rousseau maß dieser einen eigenen Wert bei, er deklarierte sie als wertvoll und schützenswert. Es sei ein Fehler, dass Ältere immer nur den Erwachsenen im Kinde suchten, statt dem Heranwachsenden eine Eigenständigkeit im Sehen, Denken und Empfinden zuzugestehen.
Schon in der Kindheit könnten die wesentlichen Grundlagen für ein späteres glückliches Leben gelegt werden. Wenn das Lernen in der frühen Lebensphase durch Spielen oder Toben statt durch Strafen oder Belehrungen begleitet werde, könnten die Jahre der Kindheit sogar die schönsten der Existenz sein.
Erstmals hatte Rousseau in seinem Roman die Erziehung aus der Sicht des Kindes betrachtet und wurde damit auch zum Urvater der antiautoritären Bewegung. Aus seinem Werben für das Wohl des Kindes ließ sich ableiten, dass Kindern auch eigene Rechte zugestanden werden mussten, die nicht aus den Rechten der Eltern abgeleitet waren. Es sollte allerdings noch ziemlich lange dauern, bis die internationale Staatengemeinschaft 1989 Rousseaus fundamentale Erkenntnis zu den Kinderrechten in verbindlicher Form fixieren konnte. Der Schweizer Pädagoge Johann-Heinrich Pestalozzi sollte hingegen seine 1775 gegründete „Erziehungsanstalt für arme Kinder" schon sehr zeitnah an den Ideen Rousseaus ausrichten, wie Anfang des 20. Jahrhunderts dann auch die italienische Reformpädagogin Maria Montessori.
In der Antike durften Kinder getötet werden
In den Jahrhunderten vor Rousseau, bis weit in die Neuzeit hineinreichend, wurden Kindern keinerlei eigene Rechte zugebilligt. Sie galten als Besitz der Eltern, im Regelfall des Vaters. Die Erkenntnis der Kindheit als eigenständige Lebensphase war laut der 1960 publizierten und bahnbrechenden Studie „Geschichte der Kindheit" des renommierten französischen Alltagshistorikers Philippe Ariès erst eine „Erfindung" der europäischen Moderne. Die ersten Ansätze blühten aber erst im Spätmittelalter und im Zeitalter der Aufklärung erstmals richtig auf. Als Kinder endlich auch symbolisch durch eigene Kleidung von den Erwachsenen abgegrenzt wurden. Lange Zeit war die Meinung vorherrschend, dass sich in der Antike kaum jemand ernsthaft für Kinder interessiert habe, weil sie als „unfertige" Menschen in einer nicht weiter beachtenswerten Vorstufe zum Erwachsenendasein angesehen wurden und nach Gutdünken des Paterfamilias im Römischen Reich getötet oder ausgesetzt werden konnten. Erst Kaiser Konstantin sollte den väterlichen Kindsmord und das Kinderaussetzen im Jahr 318 unter Strafe stellen. Züchtigungen von Kindern waren sowohl bei den alten Griechen wie bei den Römern an der Tagesordnung. Platon beispielsweise hatte den Eltern ungehorsamer Kinder empfohlen, diese „mit Drohungen und Schlägen wie ein Stück verzogenes Holz" zurechtzubiegen, daneben aber auch weniger gewaltsame Erziehungsratschläge gegeben. Auch wenn der Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenleben in der Antike wie später auch im Mittelalter nahtlos verlaufen war, weil die Kinder schon früh in sämtliche Aktivitäten der Familie eingebunden waren, so gab es laut neuesten Forschungen doch so etwas wie eine kurze, durch Spiel, Freizeit und Vergnügen geprägte kindliche Lebensphase, wie in den Schriften von Plato nachzulesen ist. Und kindliche Aufmüpfigkeit war den Römern auch schon bekannt, wie es Seneca bezeugte: „Die Kinder von heute sind Tyrannen. Sie widersprechen ihren Eltern, kleckern mit dem Essen und ärgern ihre Lehrer!"
Im Mittelalter änderte sich nichts in Sachen Kinderrechten, außer dass die Kids nun auf religiöser Basis in Juden- und Christentum sowie im Islam als Gottesgeschenk betrachtet wurden. Auch wenn die emotionale Bindung der Eltern an ihre Nachkommen wegen der hohen Kindersterblichkeit verbunden mit einer großen Geburtenrate wohl deutlich weniger stark ausgeprägt war als in späteren Epochen. Kinder wurden, auch mangels Schulen, schon im Alter von spätestens sieben Jahren in den schweren Arbeitsprozess integriert. Der Wert eines Kindes, das unter dem geläufigen Einsatz der Rute zu einem gottgefälligen Menschen erzogen werden sollte, definierte sich allein über dessen Nutzen für Eltern und Familie. Kinder galten nicht als Individuen, was sich auch daraus ablesen lässt, dass die Kleinen bis zur Romantik kein eigenständiges Thema in der Kunst darstellten. Die sinkende Kindersterblichkeit ab dem 16. Jahrhundert und der Bildungsgedanke im Zuge von Reformation und Renaissance führten dann zu einer Aufwertung des einzelnen Kindes als Individuum.
Der Grundstein für die Verschulung von Kindheit wurde gelegt, eine positive Entwicklung, die aber erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts durch die flächendeckende Einführung der Schulpflicht für Kinder aller Herkunftsschichten ihren Abschluss finden sollte. Rechte wurden den Kindern weiterhin vorenthalten, sie sollten nach festen Lehrplänen auf das Erwachsenenleben vorbereitet und zu nützlichen Bürgern der Gesellschaft gemacht werden. Neben der starken Betonung der Form- beziehungsweise Erziehbarkeit des Kindes trat im Zeitalter der Aufklärung dann auch noch das pädagogische Ziel der Disziplinierung. Die französischen Revolutionäre nahmen in ihrer Erklärung der Menschenrechte 1789 keinen Passus über mögliche Kinderrechte auf.
„Wer sein Kind liebt, züchtigt es!"
Auch die im Zuge der Romantik einsetzende, vom aufstrebenden Bürgertum propagierte Neueinschätzung der Kinder als reine, unschuldige Wesen, die nicht mehr als von der Erbsünde belastet angesehen wurden, brachte für die Kleinen eigentlich nur Pflichten. Denn sie mussten nun versuchen, diesen hohen Moralvorstellungen möglichst zu entsprechen, die sich auch in dem vom Bürgertum postulierten neuen Ideal einer möglichst „glücklichen" Kindheit niederschlagen sollten. Von dieser blieben die Kinder der bildungsfernen, im Zuge der Industriellen Revolution massenhaft Zuwachs gewinnenden Proletariern allerdings ausgeschlossen. Diese „Schmuddelkinder" wurden schon früh in den Fabriken verheizt, selbst für Achtjährige waren Arbeitszeiten von 16 Stunden und mehr keine Seltenheit. England erließ daher 1833 ein erstes Schutzgesetz, das den Einsatz von Kindern unter neun Jahren in Textilfabriken verbot, Preußen folgte sechs Jahre später mit ähnlichen Bestimmungen. 1904 sollte das erste deutsche Kinderschutzgesetz erlassen werden, das konkrete Vorschriften für die Kinderarbeit in Gewerbebetrieben enthielt. Im familiären Umfeld standen in der patriarchalischen wilhelminischen Zeit Zucht und Ordnung an erster Stelle: „Wer sein Kind liebt, züchtigt es!" Der Einsatz des Rohrstocks als Erziehungselement wurde selbst im Bürgerlichen Gesetzbuch aus dem Jahr 1896 noch legitimiert.
Der eigentliche Anschub für die weltweite Diskussion um die notwendige Einführung von expliziten Kinderrechten ging von einer Reihe von Aktivisten aus. Eine frühe Pionierin war die schwedische Reformpädagogin Ellen Key mit ihrer im Jahr 1900 publizierten Studie „Das Jahrhundert des Kindes". Darin fanden sich Gedanken wie „Erziehen ist Individualisieren" oder „Das Kind mit Baumaterial für seine Persönlichkeit versehen, es aber dann selbst bauen lassen, das ist die Kunst der Erziehung." Noch folgenreicher war die Arbeit der Britin Eglantyne Jebb, die eine erste Satzung für grundlegende Kinderrechte in Bezug auf ihr Wohlergehen entworfen und diese sogenannte „Children’s Charta" 1920 an den neu gegründeten Völkerbund in Genf weitergeleitet hatte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verabschiedeten die Vereinten Nationen dann am 20. November 1959 die „Deklaration über die Rechte des Kindes", in der das Kind erstmals international als Träger eigener Rechte bezeichnet wurde. Konkret wurde das Recht auf einen Namen, eine Staatszugehörigkeit oder auf unentgeltlichen Unterricht genannt. Allerdings blieb auch diese Deklaration rechtlich unverbindlich. 1979 ergriff Polen bei der UN die Initiative, um die Deklaration von 1959 mit einigen Abänderungen endlich in eine völkerrechtlich verbindliche Konvention umwandeln zu lassen. Mit dem Ergebnis, dass am 20. November 1989 die UN-Vollversammlung einstimmig das 54 Artikel umfassende „Übereinkommen über die Rechte des Kindes", verabschieden konnte. Dies wird auch UN-Kinderrechtskonvention genannt und ist inzwischen von 196 Staaten ratifiziert worden. Ein Gesetzesentwurf der Bundesregierung, der auf eine ausdrückliche Einfügung der Kinderrechte in das Grundgesetz abzielt, konnte im Juni 2021 nicht die erforderliche Mehrheit im parlamentarischen Verfahren erreichen.