Die eigene Meinung sagen zu dürfen, das Recht auf Bildung oder darauf, ohne Gewalt aufzuwachsen – eigentlich sollte das für alle Kinder selbstverständlich sein. Umso wichtiger, dass die UN-Kinderrechte im Schulunterricht thematisiert werden. FORUM besuchte eine saarländische Ganztagsgrundschule.
Auf einem kreisrunden Teppich zwischen Tafel und Arbeitstischen liegt den Kindern die Welt zu Füßen. Nur ist die Welt auf eine DIN-A4-große bunt bemalte Weltkarte zusammengeschrumpft. Um diese herum sind von Kindern gestaltete Karten drapiert. Sitzkreis einer dritten Klasse an der gebundenen Ganztagsgrundschule Saarbrücken-Scheidt. Die Schule setzt auf ein individuelles Lernkonzept, jedes Kind soll zu einem selbstständigen, verantwortungsvoll handelnden und reflektierendem Individuum angeleitet werden. Zudem sollen Kinder von der ersten Klasse an demokratische Mitbestimmung lernen und erproben. Lehrer verstehen sich mehr als Lernbegleiter, denn als Vermittler von Lehrinhalten. Es ist 8.50 Uhr an einem Mittwochmorgen im Juli, wenige Tage vor den Sommerferien. Auf den handbemalten Karten steht geschrieben, was die Kinder in ihrer Lebenswelt, in ihrer Familie, in ihrem Tun und Lassen, direkt betrifft: die Kinderrechte der Vereinten Nationen. Im November 1989 wurde die UN-Kinderrechtskonvention von der Generalversammlung auf den Weg gebracht, am 2. September 1990 trat sie in Kraft. Dadurch haben Kinder weltweit verbriefte Rechte, wie zum Beispiel Recht auf Bildung, auf den Schutz vor körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt und auf Spiel und Freizeit. Und hier rücken die Kitas und Schulen in den Fokus, denn ihnen kommen bei der Vermittlung von und der Auseinandersetzung mit Kinderrechten eine tragende Rolle zu. Im saarländischen Bildungsprogramm für Kitas steht etwa, dass schon die Kleinsten am Bildungsreichtum unserer Gesellschaft teilhaben und Anteil nehmen sollen an ihrem sozialen Umfeld. „Das Recht des Kindes, gehört zu werden und mitentscheiden zu dürfen, wird mit der Zeit gestärkt durch die innere Einstellung, sich beteiligen zu wollen und Verantwortung zu übernehmen", heißt es dort. In den Kernlehrplänen aller saarländischen Schulen werden Kinderrechte im Unterricht behandelt. So auch an den Grundschulen, wo die Kinder im Sach- und Religionsunterricht bei verschiedenen Themenkomplexen über Kinderrechte sprechen.
„Jedes Kind hat das Recht auf Bildung"
Während die Ganztagsgrundschüler im Saarbrücker Stadtteil Scheidt auf Holzbänken um den Teppich Platz genommen haben, kehrt langsam Ruhe ein. Zwischen den Drittklässlern an der Stirnseite der Tafel sitzt Angelika Münster-Biehl, Klassenlehrerin und stellvertretende Schulleiterin der Ganztagsgrundschule Scheidt. Die Kinderrechte-Karten hält sie in den Händen und sagt, sie sei gespannt, was sich die Schüler von der letzten Stunde gemerkt haben. Darauf recken viele Kinder ihren Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Höhe. Tudor, einer der zwei Klassensprecher, antwortet als Erster: „Jedes Kind hat das Recht auf Bildung." Münster-Biehl hakt nach, sie möchte wissen, was das genau bedeutet. Nach kurzem Zögern antwortet Tudor, das bedeute, dass jedes Kind später einen Beruf ausüben dürfe. „Vielleicht vorher noch? Was macht ihr denn jetzt gerade?", fragt die Lehrerin. Wieder antwortet der aufgeweckte Neunjährige: „Wir sind hier in der Schule und lernen." Nun wird die Karte auf dem roten Teppich abgelegt.
„Wer erinnert sich noch an etwas?", fragt Münster-Biehl. Jetzt darf Amalia antworten. „Jedes Kind hat das Recht zu spielen", sagt die Neunjährige. Auf Nachfrage erklärt Amalia, dass Kinder auch Pause machen dürfen. „Zum Beispiel, dass sie nicht den ganzen Morgen in der Schule lernen müssen? Meinst Du das?", fragt Münster-Biehl die Schülerin, die zustimmend nickt. Als Nächstes sollen die Schüler erklären, was unter „Recht auf Erholung" zu verstehen ist. Das soll Adrian erklären. „Dass man sich auch mal hinlegen darf", antwortet dieser.
Mittlerweile trauen sich immer mehr Kinder, signalisieren mit Handzeichen, dass sie auch etwas zu sagen haben, ihnen Kinderrechte wichtig sind. Und den Kleinen fällt zu den verschiedenen Kinderrechten – wie Recht auf Schutz vor Gewalt, Recht auf Gleichbehandlung, Recht auf besondere Förderung bei Behinderung, Recht auf ein sicheres Zuhause, Recht auf Freiheit – so einiges ein. Die Schüler verstehen offensichtlich die UN-Kinderrechte, können sie erklären. Doch welche Rechte sind den Ganztagsgrundschülern besonders wichtig? Was würden sie an ihrer Schule verändern wollen? Und sind sie mit den Kinderrechten in Deutschland zufrieden?
Ein eigenes Schülerparlament
Max, neun Jahre, sind alle Kinderrechte wichtig, weil er alle „vernünftig" findet. Das Recht auf Leben und Gesundheit und das Recht auf gute Ernährung sind ihm besonders wichtig. Merle sagt, dass ihr das Recht auf Gleichheit persönlich am wichtigsten ist. „Menschen mit Behinderung sollen zum Beispiel gleichberechtigt sein, sie sollen nicht schlechter, sondern genauso gut wie wir sein", so die Neunjährige. Auch Amalia sind alle Kinderrechte wichtig, aber ganz besonders das Recht auf Gleichheit, weil sie nicht okay findet, dass Menschen mit dunklerer Hautfarbe weniger wert sein sollen als die Hellhäutigen. Die neun Jahre alte Klassensprecherin Antonia will momentan nichts an ihrer Schule verändern: „Ich finde es gut, wie es jetzt ist", sagt sie. Leander sieht das etwas anders. Zwar findet er auch gut, dass er und die anderen mitbestimmen dürfen. Nur sollten ab und zu die Kinder mitentscheiden dürfen, was der Caterer zum Mittagessen kocht. Und was würde sich der Neunjährige wünschen? „Es gibt ganz oft immer das Gleiche. Ich fände es besser, wenn es mehr Abwechslung gäbe, zum Beispiel mal Hähnchenkeule." Darian sagt, für ihn ist das Recht auf Bildung und das Recht auf Schutz vor Gewalt am wichtigsten. „Denn früher wurden ja ganz oft in der Schule Kinder geschlagen und bestraft. Ich finde es aber toll, dass man das heute nicht mehr macht." An der Schule, meint der neunjährige Junge, sei alles „okay". Im Großen und Ganzen sollten aber hierzulande Kinder ihre Rechte wahrnehmen können. „Es ist nicht mehr so wie früher", erklärt Darian. Aber bei der Mittagsverpflegung würde er auch gern mitbestimmen wollen.
Ein ganz anderes Thema spricht Merle an. Sie wünscht sich, bei der Gestaltung des Klassenraums mehr mitbestimmen zu dürfen und regt an, dass auch selbst gemalte Bilder an den Wänden hängen sollten. Und sie wünscht sich bei den Neigungsgruppen in der Nachmittagsbetreuung, auch eigene Vorschläge für neue Gruppen machen zu dürfen. Merles Vorschlag, dass die Schülerinnen und Schüler künftig beim Neigungsgruppenangebot ihre Wünsche äußern dürfen, soll im Schülerparlament aufgegriffen werden. Tudor findet das Recht auf Gleichbehandlung, Recht auf Schutz vor Gewalt und Recht auf Leben und Gesundheit am wichtigsten. Allerdings liegt seiner Ansicht nach in Sachen Gleichbehandlungsrecht einiges im Argen. „Meine Mutter arbeitet bei der Awo, sie hilft Menschen, die nicht so gut Deutsch sprechen und aus dem Ausland kommen." Es gebe aber viele Kinder, die sich in einer „kritischen Lage" befinden, weil sie nicht genug Kleidung und wenig zu essen haben. „Bei uns ist einfach alles in Ordnung. Also werden diese Kinder nicht gleichbehandelt." Nun sollen die Kinder einen Baustein in der demokratischen Erziehung in ihren Worten erklären. Maurice liest von einer Karte ab: „Recht auf Mitbestimmung." Angelika Münster-Biehl schlägt den Bogen zur Ganztagsgrundschule Scheidt: „Was bedeutet das hier an unserer Schule?" Maurice antwortet: „Dass wir mitbestimmen dürfen beim Lerntagebuch, da dürfen wir bestimmen, was wir arbeiten." Er bekommt dafür ein Lob von der Lehrerin. Jetzt sagt Amalia, dass sie auf ihrer Sitzbank „super wenig Platz hat". Nach einer kurzen Intervention der Klassenlehrerin geht’s weiter im Text. „Wo in unserer Schule gibt es dieses Recht auf Mitbestimmung? Wie macht es sich denn bemerkbar", möchte Münster-Biehl wissen.
Im Klassenrat suchen die Kinder nach Lösungen
An der GTGS Scheidt ist Mitbestimmung seit Jahren gelebte Realität: Ab der Klasse 1 werden immer zwei Klassensprecher – jeweils ein Mädchen und ein Junge – gewählt, und zudem wird ab der ersten Klasse ein Klassenrat gebildet. Einmal in der Woche kommt der Klassenrat zusammen, wobei da Themen der Schüler aufs Tapet kommen. Normalerweise wird in der ersten und zweiten Klasse das Gremium von der Lehrerin geleitet. So sollen die Kinder langsam an den Ablauf einer Klassenratssitzung herangeführt werden. Ab dem dritten Schuljahr sollen die Kinder nach und nach die Leitung selbst übernehmen. Das Themenspektrum ist breit angelegt: Angesprochen werden Probleme mit anderen Kindern oder Wünsche, was das Spielangebot auf dem Schulhof oder das Angebot der Neigungsgruppen angeht. Gemeinsam suchen die Kinder in ihrem Klassenrat nach Lösungen. Lösungsvorschläge werden letztlich hier abgestimmt – jedes Kind ist stimmberechtigt.
Eine Mitbestimmungsebene über dem Klassenrat: das Schülerparlament, ein relativ neues Gremium aus den Klassensprecherinnen und Klassensprecher aller Klassen. Zuvor wurden Schulversammlungen seit vielen Jahren an der Grundschule Scheidt mehrmals im Schuljahr abgehalten. Wenn nicht Corona ist, treffen sich die 16 Klassensprecherinnen und Klassensprecher aller acht Klassen in regelmäßigen Abständen mit der stellvertretenden Schulleiterin Angelika Münster-Biehl und der stellvertretenden Leiterin des Sozialpädagogischen Bereichs, Birgit Klesner. Im Parlament sprechen sie mit den Schülervertretern gemeinsam über Themen, die den Schülern auf den Nägeln brennen. Und da treibt die jungen Menschen einiges um: von der Mittagsverpflegung über die Neigungsgruppen in der Nachmittagsbetreuung bis hin zu den Schulregeln.