Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerks, über Kinderrechte während der Corona-Krise und warum es ein Wahlrecht für Minderjährige geben sollte.
Herr Hofmann, der Plan der GroKo, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern, ist gescheitert. Wie stehen Sie dazu?
Wir haben seit mehr als 30 Jahren ein Umsetzungsdefizit bezüglich der Kinderrechte. Es ist eine herbe Enttäuschung, dass erst gegen Ende der Legislaturperiode und für nur sehr kurze Zeit die Diskussion auf Sachebene begonnen hat. Und die Diskussion lief leider unglücklich. Ziel war nie, Eltern ihre Rechte zu nehmen. Auch ging es nicht um eine Rechtsbestimmung zwischen Eltern als eine Gruppe und Kindern als andere Gruppe. Darum geht es dem Grundgesetz nicht. Es geht vielmehr um Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat, und zu den Bürgern zählen auch Kinder und Jugendliche. An diesem Konflikt ist das Vorhaben letztendlich auch gescheitert, weil man gesellschaftlich noch nicht den Schritt gemacht hat, zu sagen: Kinder brauchen eigenständige Rechte. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht 1968 dies schon einmal bestimmt hat.
Würden Sie sich eine Weiterführung der Diskussion wünschen?
Ja, die Diskussion darf jetzt nicht abebben. Ich glaube, und das ist über alle demokratischen Parteien hinweg Konsens, dass wir für das Thema Kinderrechte eine grundgesetzliche Absicherung brauchen. Wir erleben ein eklatantes Missverhältnis, ein Umsetzungsdefizit bei den Kinderrechten, aber auch ein Generationenproblem – etwa beim Thema Klimaschutz. Die nachwachsende Generation kann nicht wählen, hat aber einen starken Willen und natürlich auch ein gutes Recht darauf, auf dieses Thema Einfluss zu nehmen. Weil sie diejenige ist, die am längsten in dieser Zukunft leben muss. Insofern müssen ihre Rechte ein stärkeres Gewicht bekommen.
Was wäre gewesen, wenn Kinderrechte ins Grundgesetz gekommen wären?
Statt wie bisher als Erziehungsobjekt gemäß Artikel 6 GG definiert zu sein, würden Kinder durch die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz eindeutig als Träger eigener Rechte anerkannt. Damit würden Kinderrechte zum einen sichtbarer werden. Zum anderen würde Politik, Justiz und Verwaltung deutlich vor Augen geführt, dass sie die Kinderrechte und vor allem den Vorrang des Kindeswohls bei jedem staatlichen Handeln, das Kinder betrifft, beachten müssen. Die Folge wäre, dass die Interessen und Bedürfnisse von Kindern viel stärker als bisher in beispielsweise Gesetzgebungsprozesse, die Haushalts- oder Verkehrsplanung oder auch die Ausgestaltung von Gerichtsverfahren einfließen müssten. Es hieße auch, dass Kinder an allen sie betreffenden Entscheidungen beteiligt werden. Und klar, wenn Kinderrechte im Grundgesetz stünden, könnten Kinder und ihre Eltern sie einklagen.
Welche Rechte der Kinder wurden während der Corona-Krise besonders stark eingeschränkt?
Es ist alarmierend zu sehen, dass laut Statistischem Bundesamt Kindeswohlgefährdungen im Corona-Jahr 2020 den höchsten Stand seit 2012 erreicht haben. Wir haben erst sehr spät an die Kinder gedacht und dann aus der Erwachsenenperspektive. Wenn wir über Kindeswohl reden, geht es nicht darum, was Erwachsene für wichtig halten. Sondern auch, was die Kinder selbst für eine Perspektive und was sie in einem ganzheitlichen Sinn für Bedürfnisse haben. Sie zu beteiligen, sie nach ihrer Meinung zu fragen, kam deutlich zu kurz. Außerdem wurde ein modernes Bildungsverständnis, das mehr ist als das Wissen in Kernfächern, ignoriert. Es geht auch darum, eigenständige, selbstständige und kreative Persönlichkeiten heranzubilden. Beim Thema Bildung hätte viel früher überlegt werden müssen: Was passiert denn mit den Kindern, wenn sie den ganzen Tag vor dem Computer nur noch bestimmte Formen von Lernen erleben? Bei Bildung geht es auch um soziale Interaktion, Kreativität, ein Miteinander und um ein Lernen aus einer Verbindung von Kopf, Herz und Hand. Das alles findet beim Homeschooling nicht statt. Damit ist ihr Recht auf Bildung verletzt worden.
Wurde nach Artikel 6 der UN-Kinderrechtskonvention nicht auch das Recht auf Entwicklung verletzt?
Ja, natürlich wurde auch das Recht auf Entwicklung sowohl in motorisch-körperlicher wie auch in psychischer Sicht verletzt. Es war für Kinder eine Verhäuslichung mit wenig Bewegung zu erkennen. Das darf nicht unterschätzt werden. Für Kinder und Jugendliche ist es eine massive Einschränkung gewesen, dass sie sich nicht austoben konnten.
Und hinsichtlich ihrer psychischen Entwicklung?
Wir werden noch sehr lange mit den Folgen der Pandemie zu kämpfen haben. Wir hätten uns viel früher und viel intensiver um die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen Sorgen machen müssen. Wir wissen schon jetzt, dass Symptome wie Ängste, Schlafstörungen, Bauchschmerzen und Depressionen drastisch zugenommen haben. Wie dramatisch die Lage ist, wird daran deutlich, dass ein Kind nur bei akuter Selbstmordgefährdung einen Platz in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bekommt. Das kann und darf es nicht sein. Und da reicht ein Aufholpaket der Bundesregierung nicht.
Jede Politikerin und jeder Politiker war selbst einmal Kind. Warum setzen sie sich so wenig für Kinderrechte ein?
Diejenigen, die in ihrer Kindheit erlebt haben, dass sie gehört wurden und dass ihre Meinung Einfluss hatte, haben eine größere Sensibilität für Kinderinteressen. Bei Politikerinnen und Politikern sehe ich schon, dass sie das in ihrer Kindheit erlebt haben. Doch bei ihnen kommt folgender Faktor hinzu: Sie orientieren sich an ihren volljährigen Wählerinnen und Wählern, nicht an Kindern und Jugendlichen. Von daher ist es teilweise so, dass Politiker sagen: Kinder sind das Wichtigste, was wir haben. Aber in den konkreten Entscheidungen stehen sie hinten an. Das ist übrigens ein Grund, warum wir uns für die Absenkung des Wahlalters starkmachen.
Ab welchem Alter sollten Kinder denn wählen können?
Wir schlagen vor: zunächst auf 16 und dann auf 14 Jahre, und zwar auf allen Ebenen.
Warum nicht noch früher?
Natürlich ist das Wahlrecht ein Menschenrecht, und man müsste sagen: Wahlrecht von Geburt an wäre sinnvoll. Gleichzeitig haben wir viele Fragen, was die Umsetzung anbelangt. Pragmatisch kann man sehen, dass Kinder ab 14 oder 16 in der Lage sind, selbstbestimmt und ohne sich von ihren Eltern unter Druck setzen lassen zu müssen, wählen gehen können. Jüngeren Kindern wollen wir das aktuell noch nicht zumuten. Das ist eine gesellschaftliche Debatte, welche die Selbstbestimmung der Kinder und Jugendlichen anbelangt. Hier kann man ein bisschen mit der Zeit gehen.
Gibt es noch etwas, was Sie ins Hausaufgabenheft der nächsten Regierung schreiben würden?
Ja. Das erste Thema wäre die Bewältigung dieser Pandemie und ihrer Folgen bei Kindern und Jugendlichen. Hier gibt es große Herausforderungen, was das Thema psychische Gesundheit anbelangt, aber es geht auch um konkrete Dinge, wie darum, dass wir eine Schulbauoffensive brauchen, durch die ein Infektionsschutz möglich ist. Dass Fenster geöffnet werden können. Oder dass es Seifenspender auf den Toiletten gibt. Es kann nicht sein, dass wir, wenn wir über Infektionsschutz reden, an Schulen noch solche Zustände haben. Worum wir uns aber am meisten Gedanken machen müssen, ist: Wie stabilisieren wir Kinder und Jugendliche? Wie bringen wir sie schnellstmöglich zurück zur Gruppenerfahrung? Es ist notwendig, dass wir viel stärker in eine Schulsozialarbeit investieren, die wir auch mit außerschulischen Angeboten verknüpfen, etwa mit Vereinen und der Jugendarbeit.
Was würden Sie noch auf die Agenda setzen?
Das Zweite, was ich mir wünschen würde, wäre ein nationaler Aktionsplan gegen Kinderarmut. Schon seit Jahrzehnten wird ein Fünftel der Kinder in unserem Land dauerhaft zurückgelassen. Dazu muss man wissen: Armut wird bei uns häufig von einer Generation zur nächsten vererbt. Es ist ein Teufelskreislauf und die Einkommensarmut der Familie zeichnet leider noch viel zu oft den Lebensweg von Kindern vor. Das können wir diesen Kindern nicht länger antun.