Fünfkämpferin Annika Schleu lag bei Olympia auf Goldkurs, doch in der Reitdisziplin lief alles schief. Statt einer Medaille bekam die Berlinerin mächtig Ärger.
Für Annika Schleu scheint es, als höre dieser Alptraum niemals auf. Jetzt ist ihr olympisches Reit-Drama, das die Berlinerin ungewollt weltbekannt gemacht hat, sogar in Hollywood ein Thema. Die US-Schauspielerin und passionierte Reiterin Kaley Cuoco („The Big Bang Theory", „The Flight Attendant") reihte sich ein in die Liste der zahlreichen Kritiker, die der Fünfkämpferin Schleu und ihrer Bundestrainerin Kim Raisner Tier-Quälerei vorwerfen. „Ich sehe es als meine Pflicht an, diese Schande zu kommentieren", schrieb Cuoco auf ihrem Intergram-Account mit knapp sieben Millionen Followern: „Das ist eine ekelhafte, missbräuchliche Repräsentation unseres Sports ohne jegliche Klasse. Dieses Team sollte sich schämen."
Die Schauspielerin ist mit einem Pferdetrainer verheiratet, auf einer Farm in der Nähe von Los Angeles halten beide 25 Pferde. Wenn es nach Cuoco geht, ist Saint Boy die Nummer 26. Also das Pferd, mit dem Schleu in Tokio eine so verheerende Vorstellung geboten hatte. „Ich kaufe dieses Pferd sofort und gebe ihm das Leben, das es haben sollte. Nennt mir euren Preis", schrieb die 35-Jährige auf Instagram an die Adresse der Besitzer. Für Schleu und Raisner hatte der US-Star nur Verachtung übrig: „Möge Gott Mitleid mit jedem Tier haben, dass mit euch in Kontakt kommt."
Kritik und Vorwürfe über Social-Media-Plattformen
Sätze wie diese hat Annika Schleu seit jenem verhängnisvollen 6. August zuhauf lesen müssen, manche Kommentare waren gar offene Anfeindungen oder Schlimmeres. Inzwischen schaut die Fünfkämpferin nicht mehr auf sozialen Netzwerkseiten, was die Leute denn von ihr und diesem Fall halten. „Ich bin fast so weit zu sagen, es ist mir wichtiger, das mental zu bewältigen, als Sponsoren zu generieren", sagte die 31-Jährige im Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit": „Ich will mich nicht diesem Hass aussetzen müssen." Die vergangenen Wochen seien für sie „in mehrfacher Hinsicht schockierend" gewesen, verriet Schleu: „Der Hass, der mir in den sozialen Medien begegnet ist, hat allerdings die Enttäuschung über die verpasste Medaille überlagert."
Rückblick: Beim Wettkampf im Modernen Fünfkampf liegt Schleu nach einem herausragenden Fecht-Ergebnis (29 von 35 Duelle gewonnen) und einer guten Schwimmzeit über 200 Meter Freistil (2:16,99 Minuten) auf Goldkurs. Sie weiß, dass die abschließende Disziplin, der Laser-Run – eine Kombination aus Schießen und Laufen ähnlich wie beim Biathlon – zu ihren Stärken gehört. Sie muss also nur noch das Reiten halbwegs sauber absolvieren, und der Olympiasieg wäre zum Greifen nah.
Anders als bei den Spezialisten wird im Modernen Fünfkampf nicht auf dem eigenen Pferd geritten, das ist logistisch und finanziell nicht machbar. Die Pferde, von örtlichen Züchtern ausgebildet, werden zugelost. Auf Schleus Zettel stand der Name „Saint Boy", und als der Vierbeiner bei der vor ihr gestarteten Russin Gulnas Gubaidullina dreimal vor einem Hindernis verweigerte, wurde Schleu mulmig zumute. Sie fragte nach, ob sie das Pferd noch tauschen könne, aber es wurde abgelehnt. Die nun selbst verunsicherte Schleu holte sich noch Tipps von der Besitzerin und dem Veterinär, sie holte sich etwas Sicherheit auf dem Abreiteplatz („Da haben wir uns gut verstanden") – und dann begann das Drama.
Nur mit äußerster Mühe brachte Schleu das Pferd auf den Parcours, wo es vor den Augen der Sportwelt mehrfach verweigerte. Mit jeder Sekunde wuchs die Panik der Reiterin, die sich tränenüberströmt irgendwann nicht mehr anders zu helfen wusste, als die Gerte einzusetzen und dem Pferd die Sporen zu geben. „Hau drauf, hau richtig drauf", schrie Bundestrainerin Raisner ihrer Sportlerin zu. Alles eingefangen von den Kameras. Am Ende lag Schleu auf dem 31. Platz, doch nicht deshalb verließ sie Tokio als eine große Verliererin. Auch ihre Sportart hat verloren, manche nahmen den Vorfall gar zum Anlass, die Berechtigung des modernen Fünfkampfs, 1912 von Pierre de Coubertin höchstpersönlich ins olympische Programm erwählt, als fester Bestandteil der Sommerspiele zu hinterfragen.
Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) forderte Konsequenzen bezüglich der Teildisziplin Springreiten. „Das internationale Regelwerk bedarf dringend einer Überholung", forderte DOSB-Präsident Alfons Hörmann. Das, was in Tokio passiert sei und was zuvor auch schon bei anderen Veranstaltungen im Fünfkampf zu sehen gewesen war, sei „inakzeptabel", gefährde das Tierwohl und schade dem Ansehen von Sportlern und Sportlerinnen. „Solche Bilder", so Hörmann, „darf es nie wieder geben."
Der Fünfkampf-Weltverband UIPM, mit dem Deutschen Klaus Schormann als Präsidenten an der Spitze, wehrte sich gegen eine Verallgemeinerung, doch der Druck wurde immer größer. Nun will die UIPM mit einem Maßnahmen-Katalog reagieren. Eine Reit-Arbeitsgruppe soll Vorschläge zur Verbesserung sammeln. Modifikationen, die auf das ab 2022 gültige Format mit weniger Sprüngen und niedrigeren Hindernissen zugeschnitten sind, sollen entworfen werden. Auch soll es Schulungen für Trainer und Athleten geben. Nur eins wird nicht passieren: die Streichung der Teildisziplin Reiten.
„Ich habe das Pferd nicht extrem hart behandelt"
Das hätte auch Schleu nicht befürwortet, sie findet, dass Fünfkämpferinnen und Fünfkämpfer ein sehr gutes Pferdeverständnis besitzen. „Es bricht uns das Herz, dass wir es nicht zeigen konnten", sagte sie. Schleu gab auch Fehler zu, sie hätte „ein bisschen ruhiger und besonnener reagieren können." Viele Außenstehende meinten, sie hätte einfach beim ersten Anzeichen der Weigerung vom Pferd absteigen müssen und hätte so viel Sympathie gewonnen. Doch die Medaille wäre dann verloren gewesen. In diesem Zwiespalt traf Schleu die falsche Entscheidung. Viele Kritiker würden nicht berücksichtigen, dass man „in der Wettkampfsituation, in dem Stress nicht so viel Zeit hat."
Eine Sache schmerzt Schleu besonders: der Vorwurf der Tierquälerei. „Ich habe das Pferd nicht extrem hart behandelt", verteidigte sich die Sportsoldatin: „Ich hatte eine Gerte dabei, die vorher kontrolliert wurde. Genauso wie die Sporen. Ich bin mir wirklich keiner Tierquälerei bewusst." Auch Bundestrainerin Raisner, die wegen des Schlagens mit der rechten Faust auf die linke hintere Flanke des Pferdes frühzeitig von Olympia ausgeschlossen wurde, sprang ihrer Athletin bei. Es sei „keine Quälerei, dass man mal mit der Gerte hinten draufhaut. Sie hat dem Pferd nicht im Maul gerissen. Sie hatte keine scharfen Sporen dran. Pferde quälen sieht anders aus." Auch die Athleten in Deutschland stellten sich hinter Schleu breit auf. „Die Anfeindungen und der teils offene Hass" in den sozialen Netzwerkseiten sei „inakzeptabel und aufs Schärfste zu verurteilen", heißt es in einer Mitteilung: „Kritik an den Vorkommnissen im Wettkampf ist völlig legitim und sollte Anlass zu einer Debatte um Änderungen des Reitreglements sein."
Doch für Schleu endete der Albtraum damit nicht. Der Deutsche Tierschutzbund kündigte an, Strafanzeige gegen die Berlinerin und gegen die Bundestrainerin zu stellen. Die Debatte schaukelte sich so hoch, dass die UIPM sogar Bilder von Saint Boy in seinem Zuhause in der japanischen Präfektur Shiga veröffentliche und über den Zustand des Pferdes berichtete: „Er ist bei guter Gesundheit, wenn auch erschöpft vom Wettbewerb."