Es ist eine Entwicklung, die dank digitaler Revolution und dem vernetzten Lebensstil der Menschen unaufhaltsam erscheint: eine Emanzipation, weg von professionellen Heilangeboten, mithilfe aller offen zur Verfügung gestellten Hilfsanleitungen. Sind diese selbst gemachten Lösungen im medizinischen Bereich unbedenklich?
Kräuteranwendungen wegen Wechselbeschwerden", „selbst gefertigte Tinkturen gegen Nagelpilz" oder „geführte Fern-Hypnose bei Depressionen" – das Prinzip der Selbsthilfe ist nicht neu. Noch dort, wo es um die Versehrtheit der eigenen Person geht, wird den professionellen Architekten einer Zunft vertraut. Ist dem wirklich so? Schließlich hat es auf Social-Media-Kanälen selten eine Redaktion, kein Expertengremium, das die Flut alternativer Ideen zur Lösung eines Problems übersieht oder filtert. Ab welcher Selbstgefährdungsstufe sollte überhaupt eine Zensur einsetzen?
Hilfe zur Selbsthilfe
Breitflächig beackerte Themenwelten und das Nachahmen der auf Youtube gegebenen Tipps gelten als eher ungefährlich. Das Hacken eines Glukose-Messgeräts für Zuckerkranke oder gar dessen Eigenbau zu Therapiezwecken verlangt schon eine tiefergehende Beschäftigung mit der Materie, ist aber bei entsprechenden Softwarekenntnissen und mit wenig Hardware herzustellen. Es gibt sogar – wie auf anderen Feldern technologischer Innovationen im Gesundheitsbereich – eine emsige Community, die professionelle Anbieter von Lösungen vor sich hertreibt.
Inspiriert von der Patientenbewegung #WeAreNotWaiting, die sich mit Datenhacking und eigenen Geräten bemächtigt hat, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen um Diabetes zu bekämpfen, nutzte Timothy Omer sein Ingenieurswissen, um an einer cloudbasierten Lösung mitzuarbeiten. Er war mit Diabetes Typ 1 darauf angewiesen, sich mit anderen Betroffenen zu vernetzen, um dem marodierenden Gesundheitssystem in England einen Strich durch die Kostenrechnung zu machen. Das Warten auf die Zuteilung eines teuren Industrieprodukts wurde schließlich nicht mehr hinnehmbar. Per Blog teilte er seine eigenen Erfahrungen mit Schicksalsgenossen. Es sollte kaum Zeit vergehen, bis auch etablierte Entwickler Interesse zeigten, die bereits erhältliche CGM-Systeme herstellten.
Entwicklerplattformen wie Open Apps (www.openapps.org) und die in Tech-Kreisen weitverbreitete Anwendung von Minirechner-Einheiten wie dem Raspberry Pi (www.raspberrypi.org) ermöglicht es kreativen Köpfen aus nicht-professionellen Kreisen, solche „Hacks" durchzuführen. Als Omer herausfand, wie man die Insulinpumpe mit dem Smartphone per App steuert, war das Experimentierstadium so weit fortgeschritten, dass es den kommerziellen Anbietern zur echten Konkurrenz wurde.
Helfende Hände: Patient Innovation
Das Erkennen des Potenzials vernetzter Betroffener, die auf die Schulmedizin und ihre Antworten nicht warten wollen und aus Frustration über die eigene Lage selbst tätig werden, wurde mit der Gründung einer Plattform, die alle Patienten-Ideen sammelt, augenscheinlich: Patient Innovation. Im siebten Jahr nach der Gründung durch Prof. Pedro Oliveira und Prof. Helena Canhão wächst die Plattform www.patient-innovation.com, die alle möglichen Ideen rund um das Thema medizinische Selbsthilfe präsentiert und bewertet.
Das Prinzip der redaktionellen Filterung wird hier durch professionelle Ärztinnen und Ärzte gewahrt. Sonst gäbe es womöglich eine Menge unausgereifter Ideen, die zu Selbstversuchen und letztlich Todesfällen führen würden. Dabei werden nach Prüfung auf Unbedenklichkeit Videos und Blogbeiträge online gestellt.
Die erweiterte Perspektive hilft nicht nur denjenigen, die mit einer häufig auftauchenden Krankheit behaftet sind, sondern ist eine Hoffnung vor allem für jene, die unter einer seltenen Beeinträchtigung leiden. Auf eine simple Formel gebracht, kann die Lösung für den oder die Einzelne(n) der passende Ansatz für eine ganze Gruppe von Leidensgenossinnen und -genossen bedeuten.
Wo Social Media zum Einsatz kommt, vor allem Facebook oder Twitter, sind die nach erfolgreicher Prüfung geposteten Inhalte zu verbreiten. Die Anbindung durch eine entsprechende Page macht es den Suchenden leicht, die etwaige Lösung zu ihrem gesundheitlichen Problem schneller zu finden. Natürlich ist ein reger Austausch über die gezeigten Ideen damit erwünscht. Ein Algorithmus schiebt den neuesten Stand der jeweiligen Beiträge nach oben und unterdrückt veraltete Wissensstände. Sogar ein automatischer Übersetzer wurde eingebaut, was den Austausch von Gedanken ungemein erleichtert. Wenn man möchte, kann man sich Updates in Form eines Newsletters zukommen lassen. So viel Engagement ist nicht nur preisverdächtig, sondern hat den Erfindern tatsächlich Preise beschert.
Die Unterstützung von der eigenen Idee zur Gründung eines Geschäftsmodells in Form von Boot Camps ist die neueste Strategie zur Eigenermächtigung. Bei gezielten Veranstaltungen bekommen Erfinder das nötige Know-how vermittelt, wie sie an den medizinischen Markt herantreten können, wie es um die gesetzliche Lage bestellt ist und weitere notwendige Tipps.
Reverse Innovation
Sie kostet weniger als eine Tasse Kaffee und ist das wichtigste Gerät, um Leben zu retten: die Uterine Balloon Tamponade (Gebärmutter-Blasen-Tamponade), die Gebärmutterblutungen nach der Geburt stoppen kann, eine der Haupt-Todesursachen von Müttern in Entwicklungsländern nach der Niederkunft. Der Notarzt Thomas Burke, Vorstandsvorsitzender der Division of Global Health Innovation am Massachusetts General Hospital, richtete 2009 bereits sein Augenmerk auf die Gebärmutter-Blase, eine einfache Vorrichtung, die sich gegen die Quelle der Blutung drückt, und die körpereigene Blutgerinnung fördert. Allerdings kostet dieses simple Gerät 300 Dollar für die Endverbraucherin. Burke erfuhr damals von einer kostengünstigen Variante, die Sayeba-Methode, benannt nach Sayeba Akhter. Die Ärztin aus Bangladesch entwickelte ihre Variante unter Zuhilfenahme eines Katheders und eines Kondoms. In MacGyver-Manier verfeinerte er die Erfindung durch eine Einwegdüse, damit das Kondom stets gefüllt bleibt. Die wahre Innovation liegt aber in dem Kit samt bebilderter Gebrauchsanleitung und Ersatzteilen, wichtig in Regionen, in denen der Schutz der Gesundheit auch von Analphabeten übernommen wird. Patentieren ließ sich Burke diese Erfindung nicht, er schenkte Indien die Idee zum Nachahmen und Verfeinern. Burkes Bottom-up-Ansatz steht im krassen Widerspruch zu einer Welt, in der von oben herab entschieden wird.
Das Beispiel ist ein klassischer Fall von „reverse innovation": Man bemächtigt sich einer Technik, die aus Mangel an Ressourcen in ärmeren Ländern entwickelt wurde und adaptiert die Prinzipien in reicheren Gegenden. Das bringt Animositäten von jenen, die meinen, dass man keinen Wissenstransfer aus Ländern bekommen kann, die man selbst ständig unterrichtet. In Wirklichkeit ist ein solches Argument ein Feigenblatt für jene, die keinen Wettbewerb auf dem Medizin-Technik-Markt wollen, denn bisher war dieses Feld nicht von den Gesetzen eines freien Marktes bestimmt. Der Ansatz der außerdisziplinären Entwicklungsarbeit wird nicht nur bleiben sondern wachsen. Denn gewisse Standards aus der Schulmedizin sind nicht immer des Rätsels Lösung, was sich immer wieder bei selten auftretenden Krankheiten und Beschwerden offenbart.