„LOOSTIK", das deutsch-französische Festival für junges Publikum, findet von 8. bis 14. November in Saarbrücken und Forbach statt. Mit dem Stück „Natchav" gastiert das Künstler-Kollektiv Les Ombres Portées. Séline Gülgönen, Mitgründerin und Musikerin, im Interview.
Séline, wie sind Sie zum Schattentheater gekommen?
In den 2000er Jahren wohnte ich mit meinem Bruder und seiner Freundin in einer WG in Paris. Die beiden sind Szenografen, und gemeinsam wollten wir etwas Neues, Kreatives auf die Beine stellen. Im Haus der Kulturen der Welt fand eine Ausstellung über Indonesisches Theater statt. Wir sahen uns traditionelle Schattenspiele an, deren Ursprung viele Jahrhunderte zurückreicht. Die Marionettenspieler waren unglaublich geschickt, die mythischen Geschichten haben uns fasziniert, und die Figuren waren wunderschön. Wir waren total beeindruckt und dachten: So etwas wollen wir auch machen! Wir nahmen die Form des indonesischen Schattentheaters und passten sie unserem Kontext an, um so unsere eigenen Geschichten zu erzählen. Wir haben ganz klein bei uns zu Hause angefangen. Nach und nach kamen immer mehr Leute dazu, Musiker, Marionettenspieler … Leider haben wir keinen eigenen gemeinsamen Ort, wo wir uns versammeln können, um zu arbeiten, also treffen wir uns mal hier, mal dort, immer bei einem anderen Mitglied der Truppe. Wir sind über ganz Frankreich verteilt, Paris, Strasbourg, Marseille, ich selbst wohne in der Bretagne.
Im Schattentheater gibt es Licht und Schatten, Schwarz und Weiß. Sind den Geschichten, die sie erzählen, oder den Figuren, Grenzen gesetzt?
Das Schattentheater ist eine besondere Kunst. Dazu kommt, dass wir in unseren Stücken keinen Text verwenden. In Zukunft soll sich das ändern, aber unsere drei bisherigen Stücke sind ganz ohne Worte ausgekommen.
Schattentheater ohne Text erinnert an die Zeit der Stummfilme in Schwarz-Weiß.
Ja, „Natchav" ist sehr cineastisch. Wir haben uns da ganz offensichtlich vom Kino inspirieren lassen, vor allem insofern, als wir dem Zuschauer die Erfahrung schenken wollten, hautnah dabei sein zu können, um zu erleben, wie wir unsere Arbeit machen. Es sieht aus, als würden wir einen Trickfilm drehen, mit der Technik, den Soundeffekten.
Auf Ihrer Webseite geben Sie einen filmischen Vorgeschmack auf Ihre Stücke, beispielsweise „Natchav". Es ist mehr als ein Schattentheaterspiel: Man sieht die Schatten auf der Leinwand, das Spiel vor der Leinwand, die Entstehung der Spezialeffekte, die Musiker. Sieht der Zuschauer das auch live?
Ja, bei „Natchav" kann der Zuschauer alles sehen. Er kann verfolgen, wie das Stück entsteht. Es findet auch ein Austausch statt zwischen dem, was auf der Leinwand geschieht, und den Marionettenspielern vor der Leinwand. Es gibt zum Beispiel eine Szene im Zirkus mit einer Akrobatin, und diese Marionette interagiert mit der Marionettenspielerin. Das macht das Ganze noch lebendiger und ist sehr lustig.
Können die Zuschauer auch interagieren?
Ja, dieses Stück ist tatsächlich so angelegt. Der Zuschauerraum ist wie ein Zelt konzipiert, es kehrt auch jemand den Saal. Von Anfang an wollten wir etwas Magisches erschaffen. Im indonesischen Schattenspiel findet traditionell eine Begegnung der Menschen mit der Welt der Ahnen und Götter statt.
In Asien ist Schatten ein vieldeutiges Wort. Es bedeutet Bild, aber auch Seele oder Geist.
… Genau, es ist sehr tiefgründig. Und dieses magische Element wollten wir unbedingt beibehalten. Wir wollten zeigen, dass Magie für jeden ist und dass man sie auch selber kreieren kann. Am Ende all unserer Stücke öffnen wir immer unsere Schatztruhe, sozusagen. Wir haben keine Geheimnisse. Wir möchten, dass die Zuschauer sehen, wie die Magie entsteht. Unsere Botschaft ist: Jeder kann zaubern. Wir benützen in unseren Stücken auch kaum Maschinen oder High-Tech, wir arbeiten nicht mit aufgezeichneten Soundeffekten, sondern wir machen alles selbst, live. Wir verteidigen das Kunsthandwerk!
Ein Hoch auf das Kunsthandwerk! Sie setzen ihm eine Hommage in unserer modernen Welt, in der viele Menschen die meiste Zeit vor diversen Bildschirmen verbringen.
Wenn die Menschen sich einen Film ansehen, wissen sie nicht, wie er entstanden ist, welches handwerkliche Können dahintersteckt.
Beschreiben Sie doch bitte, wie Sie bei der Kreation eines Stückes vorgehen.
Am Anfang steht ein Thema, daraus ergibt sich die Geschichte. Nehmen Sie unser Stück „Les Somnambules". Dabei war unser Vorbild Jacques Tati ...
… der den Fortschrittsfanatismus der Gesellschaft und die Konformität der Moderne kritisierte.
Ja, ein Komiker mit Zukunftsvision, der den politischen Diskurs anregte. In „Les Somnambules" ging es um urbane Transformation. Was macht das mit der Gesellschaft, wenn man ein altes Stadtviertel zerstört, um an seiner Stelle uniforme Hochhäuser hinzubauen?
Und daraus ergeben sich wiederum Figuren?
Es ergeben sich gewisse Archetypen. In den Filmen von Jacques Tati oder Charlie Chaplin tauchen auch immer Archetypen auf, beispielsweise der „Böse Polizist". Das ist natürlich kein allgemeingültiges Statement, da steckt keine Psychologie dahinter, sondern diese Figur hat eine Funktion. In „Natchav" haben wir auch den „Bösen Polizisten", er sperrt Menschen ins Gefängnis. Der Zirkus dagegen steht für die absolute Freiheit.
Verzichten Sie deshalb auf Texte, um so viele Menschen wie möglich anzusprechen?
Definitiv. Wir spielen nicht nur für Kinder. Wir zeigen den Menschen die Vision einer Welt, wie wir sie uns wünschen. In Asien ist das Schattenspiel mystisch, mythisch. In Griechenland, der Türkei, dem mediterranen Raum, gibt es aber auch eine Tradition, die subversiv, politisch, komisch ist. Wir sehen uns zwischen diesen beiden Welten. Wir sprachen anfangs über Grenzen. Ohne Fantasie kein Wandel!
Und das Wunderbare am Schattentheater ist, dass der Fantasie keine Grenzen gesetzt sind.