Die Lage an der europäischen Außengrenze zwischen Polen und Belarus zeigt nach Ansicht unterschiedlichster europäischer Medien, dass die EU in der Migrationsfrage weiterhin keine durchsetzungsfähige, einheitliche Linie findet.
Größere Gruppen von Migranten haben versucht, die belarussisch-polnische Grenze zu durchbrechen. Der polnische Grenzschutz drängte sie mit Tränengas zurück. Hilfe von außen lehnt Polen bisher ab. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen forderte Belarus auf, die „zynische Instrumentalisierung von Migranten" zu stoppen, und drängte auf neue Sanktionen. Kommentatoren fordern mehr als Worte.
Der Autor Wojciech Maziarski äußert Unverständnis über die Haltung Polens und fordert in einem Kommentar für die polnischen Zeitung „Gazeta Wyborcza" (zweitgrößte polnische Tageszeitung), die EU in die Pflicht nehmen:
„Ich will gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn einer der Migranten durch Vertreter des polnischen Staates, des fünftgrößten Landes der Europäischen Union, getötet oder verletzt würde. Umso überraschender ist die starre Hartnäckigkeit der Regierung, die sich weigert, die Unterstützung von Frontex oder anderer EU-Länder anzunehmen. Es liegt im Interesse Polens und seiner Regierung, dass die Verantwortung für das, was an der Grenze geschieht, nicht nur von uns, sondern von der gesamten europäischen Gemeinschaft getragen wird. Schließlich ist nicht Polen allein das Objekt der Aggression des belarussischen Regimes, sondern die gesamte EU."
Der als liberal-konservativ eingestufte russische Sender Radio Kommersant FM spricht von einem „hybriden Krieg" und macht der EU heftige Vorwürfe:
„Lösungswege gibt es nicht viele"
„Die errichteten Zäune und die Rückführungen der Migranten zurück nach Belarus sind nur technische Maßnahmen. Gefragt wäre hier eine politische Entscheidung, aber die fehlt. Lösungswege gibt es nicht viele: die Migranten durchlassen, mit Lukaschenkos Regierung verhandeln und einen Kompromiss anbieten. Also nachgeben und die Niederlage im hybriden Krieg eingestehen – oder eben mit aller Kraft Druck auf Minsk ausüben. Die EU sollte dazu in der Lage sein, müsste dabei aber alle notwendigen Prozeduren beachten – und das ist nicht an einem Tag erledigt. Man hätte sich eben früher drum kümmern müssen."
Der französische Journalist und EU-Parlamentsabgeordnete Bernard Guetta (parteilos, Mitglied der liberalen Fraktion, arbeitet im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten und Menschenrechte) wirft der EU in „La Repubblica", einer wichtigsten italienischen Tageszeitungen, unterlassene Hilfeleistung vor:
„Damit verrät nicht nur Polen sich selbst und jegliches Gefühl für menschliches Mitgefühl und den christlichen Glauben, zu dem es sich so gerne bekennt. Die gesamte EU macht sich mitschuldig an einem Verbrechen: Sie verletzt ihre Pflicht, Menschen in großer Gefahr zu helfen. Die Union lässt dieses Hin und Her zwischen Polen und Belarus zu, weil sie die Zahl der Konfliktpunkte mit Warschau nicht erhöhen will und weil die Europäische Kommission und das Parlament sehr wohl wissen, dass die Aufnahme von Flüchtlingen in der europäischen Öffentlichkeit nicht gerade populär ist."
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" befindet, dass die EU weiter erpressbar bleibt, und fordert, alles zu unternehmen, um dem menschenverachtenden Treiben ein Ende zu setzen:
„Es gibt immer noch politische und wirtschaftliche Hebel, vor allem müsste mehr gegen Flüge getan werden, mit denen die Migranten nach Belarus kommen. Im Gegensatz zu anderen Fluchtrouten wurde diese aus rein politischen Gründen geschaffen. Trotzdem zeigt auch dieser Fall wieder, dass die EU endlich eine Grundsatzdebatte über die Asyl- und Migrationspolitik führen muss. So unverhohlen wie Lukaschenko hat schon Erdogan einmal versucht, Europa mit Asylbewerbern zu erpressen."
Die Zitate sind eine Auswahl von „euro|topics", einer europäischen Presseschau, herausgegeben von der Bundeszentrale für Politische Bildung. Ausgewertet werden 500 Medien aus 32 Ländern.