Folgt nach dem Brexit als nächstes der Polexit? Die jüngsten Eskalationen zwischen Polen und der EU könnten eine Eigendynamik in dem gespaltenen Land entwickeln. Aber es gibt auch das pro-europäische Polen – und einen Hoffnungsträger.
Das Europäische Parlament ist eine diskussionsfreudige Veranstaltung. Dass es einem Streit aus dem Wege geht, wird niemand ernstlich behaupten können. Was sich aber Mitte Oktober in Straßburg ereignete, ist mit „Schlagabtausch" nur unzureichend beschrieben. Die Heftigkeit und Intensität hatte einen guten Grund, ging es doch um nicht weniger als eines der, wenn nicht das Essential überhaupt für die EU: das Rechtsstaatsprinzip und die Frage, ob europäisches Recht über nationalem Recht steht oder eben nicht.
Polen hat diese existenzielle Frage auf den Tisch gelegt. Korrekterweise: eine Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts. Das hatte festgestellt, dass etliche Teile der polnischen Verfassung nicht mit EU-Recht verträglich sind. Mit dieser Feststellung vom 7. Oktober hat, so die Überzeugung vieler, im Grunde Polen seinen Ausstieg aus der EU eingeleitet. Heißt es doch nichts anderes, als dass sich Polen, etwas salopp gesagt, aussucht, an welche europäischen Regeln es sich zu halten gedenkt –
und wo es sich nicht gebunden fühlt.
Das Ganze erinnert stark an Haltungen, die aus der Brexit-Diskussion bekannt sind. Vergleichbar sind die Entwicklungen nicht wirklich, trotzdem steht das böse Wort vom Polexit im Raum. Es ist nach ziemlich einhelliger Einschätzung nicht nur eine ziemlich verfahrene Situation, atmosphärisch wie objektiv. Die Situation ist eine Grauzone. Wer sich zumindest teilweise außerhalb der gemeinsamen Regeln stellt, stellt sich im Grunde damit selbst ins Abseits. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki erklärt in der hitzigen Debatte aber das genaue Gegenteil als eine Polexit-Absicht: Europa sei „der beste Platz unter der Sonne" – und „lang lebe Polen".
Ein Rausschmiss eines Mitgliedslandes ist in der EU nicht vorgesehen, und an einem selbst erklärten Austritt hat die polnische Regierung auch kein Interesse. Der Rest ist verzweifelte lautstarke Sprachlosigkeit. Die polnische Regierung spricht von „Erpressung", weil die EU mit Strafmaßnahmen wegen der Rechtsstaatsverstöße reagiert, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kontert, man werde nicht zulassen, „dass unsere gemeinsamen Werte aufs Spiel gesetzt werden".
Es ging um das Essential der EU
Was in Polen derzeit wirklich der Fall ist, ist schwer einzuordnen, zu groß sind die gleichzeitigen Widersprüche. Umfragen zeigen über einen langen Zeitraum, dass eine deutliche Mehrheit der Polen pro-europäisch eingestellt ist. Gleichzeitig aber haben sie erst vor zwei Jahren die als nationalkonservativ eingestufte PiS-Partei („Recht und Gerechtigkeit") wiedergewählt – trotz ihres Konfrontationskurses mit Brüssel.
Die Jugend in Polen gilt gemeinhin als weltoffen, tolerant, kurz, den Werten einer liberalen, offenen Gesellschaft verbunden. Gleichzeitig ist es noch nicht allzu lange her, dass sich Woiwodschaften, regionale Verwaltungseinheiten, insbesondere im Süden des Landes zu „LGBTQ-freien Zonen" erklärten. Der Erfolg der PiS-Partei wird nicht zuletzt auf einen Wahlkampf zurückgeführt, in dem Homosexualität eine wichtige Rolle gespielt hat. Aber auch da zeigt sich die polnische Gesellschaft gespalten. Zwar spricht sich eine Mehrheit gegen die Homo-Ehe aus, gleichzeitig hätten aber gut 60 Prozent nichts gegen eingetragene Partnerschaften.
Weltoffen-tolerant und EU-freundlich gegen konservativ und national – das hat schon viel von Kulturkampf eines Landes, das auf der Suche nach eigener Identität zerrissen ist. Ein Land, dessen konservative Elite sich offensichtlich nach wie vor in der EU nicht so richtig ernstgenommen fühlt, sozusagen als ein Land der zweiten Reihe.
Ein Gefühl, das in vielen der noch vergleichsweise jungen EU-Mitgliedsstaaten in Mitteleuropa formuliert wird und einen sichtbaren Ausdruck in der Gruppe der Visegrád-Staaten findet. Benannt ist die Gruppe nach der ungarischen Stadt Visegrád, wo sich Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei (damals Tschechoslowakei) 1991 zum ersten Mal trafen und einen losen Verbund gründeten.
Mit der Zeit wurde dies immer stärker zu einem Zentrum der Kritik an der EU-Politik, einig sind sie sich in der Ablehnung einer gemeinsamen Migrationspolitik. Gemeinsam ist ihnen aber auch das angespannte Verhältnis gegenüber Moskau, dem ehemaligen „großen Bruder" aus der Sowjetzeit. In der EU hat diese Zusammenarbeit vor allem zu einer Konfrontationsstruktur einer Binnenopposition geführt. Bei dem nach wie vor in vielen Fällen geltenden Einstimmigkeitsprinzip führt das regelmäßig zu komplizierten Entscheidungsstrukturen bis hin zur Lähmung.
Ein Ausstieg aus der EU nach dem Brexit-Beispiel steht dennoch nicht wirklich auf der Agenda dieser Länder. Dafür profitieren sie zu sehr von der EU, gleichzeitig ist die Einbindung in die EU und die Nato eine Versicherung gegen Russland. Die Visegrád-Gruppe ist ein ständiger Unruheherd. 2017 hat die EU ein Verfahren gegen die Gruppe eingeleitet, weil sie die (mehrheitlich) beschlossene Verteilung von Flüchtlingen auf die Mitgliedsstaaten nicht umsetzte. Ungarn und Polen sorgen wegen ihrer rechtsstaatlichen Entwicklung für eine ständige Anspannung.
Ist ein Polexit nun ein reales Szenario? Polens Vizeparlamentspräsident Ryszard Terlecki, der als enger Vertrauter des mächtigen PiS-Parteichefs Jaroslaw Kaczynski gilt, verwies vor Kurzem noch ausdrücklich auf die Briten, die gezeigt hätten, „dass ihnen die Diktatur der Brüsseler Bürokratie nicht passt". Er weiß aber: „Die Zustimmung zur Mitgliedschaft in der EU ist bei uns sehr groß. Wir wollen nicht austreten." Gleichzeitig zitiert ihn der „Tagesspiegel" mit den Worten: „Wir können uns nicht in etwas hineintreiben lassen, das unsere Freiheit und unsere Entwicklung beschneidet". Klarer ließe sich das innerpolnische Dilemma kaum zusammenfassen.
Die Nervosität wächst weiter
Polens Oppositionsführer Donald Tusk, als ehemaliger EU-Ratspräsident bestens vertraut mit Fallstricken, warnt in dieser Situation, Polen könne „schneller als irgendeinem scheint" kein EU-Mitglied mehr sein. Aus seiner Sicht besteht eine reale Gefahr, dass der PiS-Partei die eigene konfrontative Kampagne entgleitet. Die Nervosität jedenfalls wächst. Ein Regierungssprecher beeilt sich zu betonen: „Es wird keinen Austritt Polens aus der EU geben." Terlecki wiederum kann die Aufregung über seine Äußerungen kaum verstehen. Polexit, das sei eine reine Erfindung der Opposition und des TV- Senders TVN24. Der gilt als unabhängig, gehört zum US-Medienkonzern Discovery. Und den hatte die polnische Regierung schon im Sommer im Visier, als sie ein Gesetz vorlegte, wonach Sendelizenzen nur noch an Sender vergeben werden dürften, die mehrheitlich im Besitz polnischer Eigentümer sind oder aus dem europäischen Wirtschaftsraum stammen. Die Beratung über das Gesetz führte zu tumultartigen Szenen im Sejm, dem polnischen Parlament. Im Streit um das Gesetz zerbrach auch die Regierungskoalition. Ohnehin gab es immer wieder Streit zwischen der PiS und den beiden kleinen Partnern, auf die die Regierungspartei angewiesen ist. Noch fanden sich immer wieder Mehrheitsbeschaffer, aber auch das Wort von Neuwahlen macht die Runde.
Wie fest die nationalkonservative PiS noch sitzt, ist schwer einzuschätzen. Erst recht, nachdem sich Donald Tusk in der polnischen Politik zurückgemeldet hat. Der einstige EU-Ratspräsident (2014–2019) war zuvor schon einmal Ministerpräsident in Polen (2007–2014) und gilt als Angstgegner für PiS-Chef Kaszinsky. Tusk wurde damals gegen den Widerstand der PiS zum EU-Ratspräsidenten gewählt. Seine Anhänger haben heute neben der Ablösung der PiS vor allem ein Ziel: „Polens Ansehen wieder aufbauen". Dazu würde ganz sicher kein Polexit gehören.