Es braucht weiter viel Geduld: Die Europäische Union sieht sich immer wieder mit britischen Alleingängen konfrontiert, die das Nordirland-Protokoll schlicht ignorieren.
Rule, Britannia" (Deutsch: Herrsche, Britannien), das patriotische Lied der Briten, scheint zur neuen Maxime der britischen Regierung zu werden. Dass man sich an internationale Verträge zu halten hat dagegen weniger. Jakobsmuscheln, dies- und jenseits des Kanals eine Delikatesse, wurden unlängst zum neuen Streitpunkt zwischen Frankreich und Großbritannien. Denn erneut wurde ein britischer Fischer ohne Lizenz in französischen Hoheitsgewässern aufgegriffen. Diesmal setzten ihn die Behörden in Le Havre fest.
Der Streit um Fischgründe ist einer der vielen Knackpunkte im Verhältnis zwischen den britischen Inseln und der Europäischen Union, die auch nach dem Brexit-Vertrag nicht ausgeräumt sind. Nach zehn Monaten hätten französische Fischer immer noch nicht alle vereinbarten Lizenzen bekommen, um in britischen Gewässern fischen zu dürfen, heißt es in Frankreich. Umgekehrt wirft Großbritannien Frankreich vor, sich nicht an die geltenden Verträge zu halten und britischen Fischern das Anlegen in französischen Häfen zu verweigern – eine Reaktion auf die noch nicht erteilten Fanglizenzen. Sogar das Unterbrechen von Energielieferungen ist im Gespräch, sollten die Briten nicht einlenken, denn die Kanalinsel Jersey wird vom französischen Festland aus mit Strom versorgt.
Streit um Fischerei-Lizenzen und den Zoll
Der Ton zwischen Paris und London wird rauer – nicht nur rund um den Ärmelkanal. Auch der Warentransport zwischen Nordirland und Großbritannien lässt die Wellen hoch schlagen. Denn entgegen Johnsons einstigen Beteuerungen, es werde keine Zollkontrollen geben, gibt es sie. Und schlecht vorbereitet. Die Prozeduren und zu wenige Lkw-Fahrer lassen das Warenangebot in britischen Supermärkten schmelzen. Nordirische Unionisten, die auf der Seite des Vereinigten Königreiches stehen, fühlen sich vom Nordirland-Protokoll verraten – denn dadurch gilt, in Teilen und übergangsweise, noch immer EU-Recht in diesem Teil des Königreichs und damit die Regeln des EU-Binnenmarktes. Die Unionisten wären diese EU-Resttatbestände gerne los, die proirischen Republikaner nicht.
Dabei besteht das Problem weniger an der irisch-nordirischen Grenze, sondern an der Seegrenze zwischen Nordirland und dem britischen Teil des Königreiches, wo Kontrollen und Zollprozeduren den Warenverkehr empfindlich treffen. Nun hat die britische Regierung damit gedroht, das Nordirland-Protokoll einseitig aufzukündigen, sollte es nicht grundlegend geändert werden. Brexit-Minister David Frost warf der EU vor, die Briten weiterhin im Binnenmarkt halten zu wollen, während die EU davon ausgeht, dass die Briten das Protokoll mit der Absicht unterschrieben haben, es baldmöglichst auszuhebeln. Premier Boris Johnson selbst habe dies einst gesagt, so sein Ex-Berater Dominic Cummings.
Nun schlug der Brexit-Beauftragte der EU-Kommission, Vizepräsident Maros Sefcovic, vor, die Kontrollen an der Seegrenze zwischen Nordirland und Großbritannien um 80 Prozent zu verringern. Fracht aus Großbritannien, die nach Nordirland verschifft werde, solle gar nicht mehr kontrolliert werden. Damit kommt die Europäische Union den Brexiteers weit entgegen. Anzeichen deuten aber darauf hin, dass dies immer noch nicht reicht. So forderte Frost, dass der Europäische Gerichtshof nicht mehr für Nordirland zuständig sein sollte. Das aber ist aus EU-Sicht kaum verhandelbar, ein EU-Binnenmarkt ohne EU-Rechtsaufsicht nicht denkbar.
Dabei ist die Protokollfrage untrennbar mit dem Frieden zwischen beiden nordirischen Lagern verbunden. Der Wegfall einer Grenze durch das Schengener Abkommen zwischen der Republik Irland und dem britisch kontrollierten protestantischen Nordirland machte den Weg 1998 für ein Friedensabkommen zwischen den probritischen Unionisten und proirischen Republikanern im Norden Irlands frei. Die alten Konflikte flammen nun wieder auf: Droht eine Grenze zwischen Irland und Nordirland, fühlen sich die katholischen Republikaner in Nordirland provoziert. Bleiben die Kontrollen an der Seegrenze, steigt der Unmut der protestantischen Unionisten, die eine Vereinigung mit der irischen Republik fürchten. Downing Street hat sich durch den Brexit Dämonen ins Haus geholt, die zwar nicht ausgetrieben waren, aber ruhten, mehr oder weniger.
Britisches BIP sinkt, die Inflation steigt
Jedoch braucht Premier Johnson derzeit äußere Dämonen, um von inneren abzulenken. Der Warenverkehr zwischen Irland und Nordirland steigt, während er zwischen Nordirland und Großbritannien sinkt. Das Office for Budget Responsibility (OBR), vergleichbar mit dem Bundesrechnungshof, hat in seiner jüngsten Studie nachgewiesen, dass der Brexit das Land teuer zu stehen kommt – schlimmer als Corona. Laut Richard Hughes, dem Vorsitzenden des OBR, sinkt das britische Post-Brexit-Bruttoinlandsprodukt um vier Prozent, und noch einmal um zwei Prozent durch die Pandemie. Die Lebenshaltungskosten steigen, die Inflationsrate könnte fünf Prozent überschreiten. Die Regierung braucht finanzielle Erfolge. Den soll ihr der neue Haushalt bescheren. Schatzkanzler Rishi Sunak arbeitet an der Quadratur des Kreises: Mehr Geld für alle, für Infrastruktur, Familien, für die ländlichen Gebiete. Aber nicht sofort. Erst einmal bittet die Regierung zur Kasse, 3.000 Pfund, umgerechnet 3.500 Euro mehr müsse ein Durchschnittshaushalt im kommenden Jahr an Steuern zahlen, errechnete der unabhängige Think Tank IFS. Um mehr investieren zu können, müsse zudem die Wirtschaft wachsen, heißt es. Das gilt auch für den Klimawandel. Johnson macht angekündigte Investitionen in den Klimaschutz davon abhängig, dass die Wirtschaft seines Landes wächst wie erwartet. Großbritannien wolle bis 2025 eine Milliarde Pfund, umgerechnet rund 1,18 Milliarden Euro, mehr in die Finanzierung von Klimamaßnahmen stecken, kündigte Johnson zum Auftakt des Weltklimagipfels COP26 in Glasgow an. Das gilt aber nur für den Fall, dass die Konjunktur wie prognostiziert zulegt. Bislang hatte Großbritannien vorgesehen, zwischen 2021 und 2026 insgesamt 11,6 Milliarden Pfund für ärmere Länder im Kampf gegen die Klimakrise locker zu machen. Die nun angekündigte zusätzliche Milliarde soll aus dem Topf für internationale Entwicklungshilfe kommen, für den im Haushaltsjahr 2024/25 – im Fall einer sich entsprechend erholenden Wirtschaft – wieder 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes vorgesehen sind. Die britische Regierung hatte diesen Topf wegen der wirtschaftlichen Belastungen durch die Corona-Pandemie für die nächsten Jahre auf 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung gekürzt und dafür massive Kritik von humanitären Organisationen, aber auch von Abgeordneten aus den eigenen Reihen erhalten.
Von wirtschaftlicher Erholung kann aber im Augenblick keine Rede sein – 100 Tage nach dem sogenannten „Freedom Day", der auch im letzten Landesteil alle Coronaregeln zurücksetzte, hat das Land eine der höchsten Infektionsraten weltweit, 1.000 Patienten täglich werden in die Krankenhäuser mit Symptomen eingeliefert. „Wir sind am Limit, und es ist Mitte Oktober. Es würde unglaublich viel Glück brauchen, damit wir uns in drei Monaten nicht in einer schweren Krise wiederfinden", sagte der Geschäftsführer des Verbands der Trägerorganisationen des Nationalen Gesundheitsdiensts NHS, Matthew Taylor, dem „Guardian".
In der Fischerei-Krise mit Frankreich reden die beiden Seiten nun wieder miteinander. Erste neue Lizenzen wurden von den britischen Behörden für französische Fischer ausgestellt. Das Störfeuer aus Downing Street aber wird, solange die heftigen Nachwehen des Brexits auf der Insel und darüber hinaus nicht abgeklungen sind, weitergehen.