Was derzeit in Großbritannien geschieht, verfolgt Volkswirtschaftler Prof. Andrew Lee mit Sorge. Für ihn ist der amtierende Premierminister ein populistischer Darsteller, der innenpolitisch Kapital aus dem immerwährenden Streit mit der EU schlagen will – zum Schaden Großbritanniens.
Prof. Lee, welche Strategie verfolgt die Regierung Johnson derzeit im Verhältnis zur EU?
Boris Johnson verfolgt dieselbe Strategie wie immer: „Have your cake and eat it", wie er mal treffend gesagt hat, sprich auf zwei Hochzeiten tanzen. Dieses Jahr hat deutlich gezeigt, dass das nicht möglich ist, aber da er in erster Linie für ein heimisches Publikum spielt, macht er weiter. Er wendet jedes Mal dasselbe Schema an: Er versucht, hart zu klingen, schreit laut auf, wenn die EU ihm nicht gibt, was er will, dann kippt er um, und er verkauft es als einen Sieg für Brexit-Britannien. Das war der Fall beim Austrittsabkommen und dem Nordirland-Protokoll 2019, die der EU im Grunde das meiste von dem gaben, was sie wollte. So war es auch bei dem am 24. Dezember 2020 vereinbarten Brexit-Abkommen. Kürzlich geschah dies mit der Frist für die Einhaltung der britischen Produktsicherheitsvorschriften im Gegensatz zu den EU-Vorschriften, die auf 2023 verschoben wurde, und mit der Verzögerung bei den Kontrollen von Waren, die aus der EU eingeführt werden.
Warum macht er das überhaupt?
Der Grund dafür ist, dass er an demselben Narrativ festhalten muss: „Ich spiele mit der EU hart, sie sind Tyrannen, die dogmatisch und bürokratisch sind. Also arbeite ich Tag und Nacht daran, euch Briten eine erstaunliche Lösung zu bieten." Er beschwört den Geist des „Mit dem Rücken zur Wand", der bei vielen britischen Wählern immer noch gut ankommt. Er weiß jedoch, dass UK bei einem Konflikt mehr zu verlieren hat als die EU, weshalb er dazu neigt, in letzter Minute einen Kompromiss zu schließen. Da die EU dies weiß, ist die Verhandlungsglaubwürdigkeit Großbritanniens meistens sehr gering.
Verhält sich die EU deshalb so geduldig?
Die EU erinnert mich an ein Elternteil, das seinem Kind dabei zusieht, wie es sein Spielzeug durch das Zimmer wirft und abwartet, bis sich das Kind beruhigt hat. Zumindest in der Öffentlichkeit ist die EU ruhig und gelassen. Das hat damit zu tun, dass es derzeit politisch nicht opportun ist, sich mit dem Vereinigten Königreich zu streiten, da der Brexit für viele EU-Bürger kein wichtiges Thema ist, während er für die Bürger des Vereinigten Königreichs natürlich von entscheidender Bedeutung ist. Daher hat die EU vor allem in Hinterzimmern verhandelt und selbst Kompromisse in bestimmten Fragen geschlossen, etwa bei den Stichprobenkontrollen und dem Papierkram für Waren, die von Großbritannien nach Nordirland gehen.
Jedoch scheint Frankreich im Streit um die Fischereirechte die Geduld zu verlieren.
Der aktuelle Fischereistreit hat die Situation etwas verändert. Da die Fischer in der britischen und französischen Gesellschaft ein überproportionales Gewicht haben, ist es für einen französischen Politiker nun profitabler, politisches Kapital in den Streit zu stecken. Dies, zusammen mit der traditionellen britisch-französischen Rivalität, die von den britischen Medien geliebt wird, heizt leider eine hässliche Debatte an, die sich zum Schlechten wenden könnte. Meiner persönlichen Meinung nach wird sich die EU auf die Seite der Franzosen stellen, da sie sich immer auf die Seite eines Mitgliedstaates und nicht auf die eines Drittlandes stellt, und sie wird verzweifelt versuchen, den Konflikt zu deeskalieren, um das Nordirland-Problem nicht aufkommen zu lassen. Deutschland wird wie immer eine wichtige Rolle bei der Befriedung Frankreichs spielen, aber mit dem Regierungswechsel in Deutschland betreten wir Neuland.
Apropos Nordirland: Das Grenzprotokoll erscheint wie eine Sollbruchstelle im Verhältnis mit Großbritannien. Welche Lösung sehen Sie?
Ich bin in dieser Hinsicht so wenig optimistisch wie schon lange nicht mehr. Rational gesehen sollte sich das Vereinigte Königreich an das Nordirland-Protokoll halten, denn die Alternative ist für eine durch Brexit und Covid-19 angeschlagene Wirtschaft einfach undenkbar. Das Vereinigte Königreich hätte, wenn sie Artikel 16 ziehen, das Recht, einseitige Maßnahmen zu ergreifen, wie etwa die Aussetzung der Kontrollen an der britischen und nordirischen Grenze. Wenn die EU mit solchen Maßnahmen nicht einverstanden ist, darf sie in angemessener Weise Vergeltung üben, zum Beispiel Zölle auf britische Einfuhren erheben. Dies wäre der Beginn eines Handelskriegs, bei dem beide Seiten verlieren würden, das Vereinigte Königreich jedoch viel mehr als die EU. Aus diesem Grund war ich bisher zuversichtlich, dass das NI-Protokoll bestehen bleibt.
Ich bin zutiefst beleidigt, weil eine Regierung, die dieses Protokoll ausgehandelt hat, es benutzt hat, um 2019 Wahlen zu gewinnen – mit dem Slogan: oven-ready deal. Sie ließ es dann im Parlament ratifizieren und tat so, als ob die EU sie dazu gezwungen hätte. Dies habe ich immer als ein Schauspiel von Boris Johnson vor dem heimischen Publikum gesehen. Diesmal jedoch könnte Boris Johnson innenpolitisch unter enormen Druck geraten, die nukleare Option zu wählen. Wenn der Fischereistreit in den britischen Medien so dargestellt wird, dass das Vereinigte Königreich in die Enge getrieben wird, und genügend Menschen dies glauben, könnte er der Meinung sein, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für einen Gegenangriff ist. So wirtschaftlich töricht das auch wäre, Boris Johnson ist kein detailorientierter Politiker und hat außer leeren Slogans wie Global Britain kaum eine Strategie. Daher befürchte ich, dass er glauben könnte, Großbritannien müsse mutig sein und die „Brüsseler Tyrannen" zurückschlagen, was zu unermesslichem Schaden führen würde, nicht nur kurzfristig in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern, was noch wichtiger ist, die Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien für Jahrzehnte belasten würde. Das Vertrauen wird möglicherweise für sehr lange Zeit nicht wiederhergestellt werden.
Kaum Strategie und nationaler Narzissmus: Gibt es überhaupt Hoffnung auf Deeskalation?
Ich hoffe, dass sich kühle Köpfe durchsetzen, dass Boris Johnson sein Spiel mit der harten Hand und dem Geschrei fortsetzt, um sich dann zurückzuziehen, ohne dass ein wirklicher Schaden entsteht. Die EU bietet einen Kompromiss in Bezug auf die Rolle des EuGHs an, das Vereinigte Königreich nimmt ihn an, und dann machen wir weiter. Doch selbst wenn dies der Fall sein sollte, ist dies kein Weg, um die Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich vernünftig zu gestalten. Solange Boris Johnson glaubt, mit diesem Verhalten innenpolitische Vorteile zu erzielen, wird es immer wieder zu Geschrei und Gezänk kommen, das wenig Substanz hat. Und bei all den Herausforderungen, vor denen wir als Kontinent stehen – Klimawandel, USA-China, um nur zwei zu nennen – ist das Letzte, was wir brauchen, wertvolle Jahre mit Streitereien zu verschwenden.