Der Zustand der Europäischen Union macht der deutschen Kanzlerin Sorge. Der Druck von unterschiedlichen Seiten auf Brüssel steigt, doch gerade jetzt zeigt sich die Union erstaunlich robust. Auch an höchst unpassender Stelle wie im Konflikt mit Belarus an der EU-Ostgrenze.
Mit Angela Merkel geht nicht nur eine deutsche Regierungschefin, sondern auch eine Vermittlerin und Unterhändlerin auf europäischer Ebene. Sie hinterlässt eine EU, die an zahllosen Schauplätzen gefordert ist, nicht nur beim Klimawandel, bei der Digitalisierung und der europäischen Integration. Die Spannungen zwischen Brüssel und den sogenannten Visegrad-Staaten im Osten wie Ungarn und Polen bleiben hoch. Das polnische Verfassungsgericht erklärte europäisches Recht teilweise für verfassungswidrig – ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Europäischen Union. Streitigkeiten zwischen ihr und Mitgliedstaaten über Rechtsauffassungen gab es zuvor zwar immer wieder, zuletzt auch in Deutschland, als die Karlsruher Verfassungsrichter ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes zu Anleihekäufen der Zentralbank als „objektiv willkürlich" bezeichneten. Gleich die gesamte Rechtsgrundlage einzelner europäischer Gesetze infrage zu stellen, wie im Falle von Polen, kommt jedoch einer Grundsatzdiskussion gleich: Wo hört die Zuständigkeit des Einzelstaates auf und wo beginnt diejenige der EU?
Geklärt ist dies in den Beitrittsverträgen. Eigentlich. Doch die rechtsnationalistische polnische Regierung befindet sich wie Ungarn auf einem Kreuzzeug gegen demokratische Gewaltenteilung und Institutionen. Während die EU dagegenhält, geraten diese 2004 unterzeichneten Verträge nun ins Fadenkreuz der PiS-Regierung von Mateusz Morawiecki und der grauen Eminenz in Warschau, Parteichef Jaroslav Kasczinsky. Die Empörung über das Urteil lenkt von den eigentlichen Konflikten ab – und diese tragen nationalistische, erzkonservative und liberale, proeuropäische Kräfte im Land selbst aus, abzulesen zum Beispiel an den jüngsten Protesten gegen die harten Abtreibungsgesetze.
Ungelöste Probleme schwächen EU
Der Auftritt der EU ist trotz eines mangelnden formalen Sanktionsmechanismus robust: Strafzahlungen, Corona-Hilfspakete auf der Kippe, für Polen steht damit vor allem finanziell viel auf dem Spiel. Damit zeigt Brüssel, dass es außer dem erhobenen Zeigefinger eine ernst zu nehmende Handhabe gegen antidemokratische Elemente hat.
Auch im Westen drohen Unsicherheiten, es naht die Wahl eines neuen französischen Staatspräsidenten – oder einer Staatspräsidentin. Denn Marine Le Pen schickt sich an, erneut Emmanuel Macron im Duell um den Élysée-Palast herauszufordern. Diesmal hat sie jedoch Konkurrenz im eigenen rechtsnationalistischen Lager. Gleichzeitig steigt die nicht bei allen beliebte Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo mit einem ökologischen Kurs in den Wahlkampf ein und wildert damit im Lager von Yannick Jadot, der für die Grünen antritt. Die Konservativen brauchen noch ein paar Wochen, bis sie ihren Kandidaten aus sechs Bewerbern küren. Das breite Feld an Herausforderern jedoch zeigt: Der Hoffnungsträger Macron ist angeschlagen. Deutschland betont gern die Freundschaft zu Frankreich, aus der ein Führungsduo innerhalb der Union erwachsen ist. Wie es damit weitergeht, ist unklar.
Politische Verantwortung, so scheint es, wandert damit mehr und mehr nach Brüssel – ins Parlament wie auch in die Kommission. Diese schlägt sich neben den Attacken aus Warschau derzeit mit dem ewigen Genörgele aus Downing Street herum. Boris Johnson ist unzufrieden mit dem Nordirland-Protokoll und der schlechten Entwicklung, die die britische Wirtschaft nach dem Brexit genommen hat. Also sucht er Ablenkung im Streit mit der EU, die seiner Meinung nach an allem Schuld ist, auch daran, dass in Nordirland lange schlafende Konflikte zwischen proirischen Republikanern und britischen Loyalisten wieder aufflammen.
Und dann ist da noch das Thema Migration, deutlich in diesen Tagen an der belarussisch-polnischen Grenze, wo sich mittlerweile Bewaffnete gegenüberstehen und Flüchtlinge sich in zunehmend auswegloser Situation wiederfinden. Nach Angaben des Berliner „Tagesspiegels" baut Diktator Alexander Lukaschenko derzeit die Flugverbindungen in den Nahen Osten aus, um noch mehr Flüchtlinge ins Land und damit an die EU-Außengrenze zu bringen. Das Kräftemessen gewinnt also in den kommenden Wintermonaten weiter an Brisanz für eine Union, die sich noch immer uneins ist – und dadurch, aus Minsker Sicht, zunehmend erpressbar.
Die Europäische Union ist gefordert wie nie. Ungelöste Probleme schwächen sie, sagte Angela Merkel auf ihrem letzten Gipfel Ende Oktober. Diese aber überlässt sie ihrem Nachfolger. Ihre Zeit als schier unermüdliche Vermittlerin, teils bis spät in die Morgenstunden, ist abgelaufen.