Die vierte Welle der Pandemie hat Deutschland im Griff. Wirklich vorbereitet war man allen frühen Empfehlungen zum Trotz nicht. Und auch jetzt orientieren sich geplante Maßnahmen nicht unbedingt am Expertenrat.
Das zweite Corona-Weihnachten droht in diesem Jahr wohl ähnlich trübsinnig über die Bühne zu gehen wie das erste. Die Entwicklungen gleichen sich, auch wenn vieles unter anderen Voraussetzungen steht als im vergangenen Jahr.
Ähnlich wie 2020 scheint man in weiten Teilen der Politik überrascht von der Entwicklung, obwohl es ausreichend Hinweise aus den einschlägig bekannten Expertenkreisen gab, was auch in diesem Herbst und Winter drohen könnte – und wie man sich in bestimmten Bereichen darauf hätte vorbereiten können.
Dritte Impfung zuerst für Risikogruppen
Schon im Sommer stand das Thema einer Booster-Impfung auf der Agenda. Und auch dieser Tage waren die Experten über ein Vorgehen dabei ziemlich einhelliger Meinung. „Jetzt wäre es eigentlich sinnvoll, erstmal die Risikogruppen zum dritten Mal durchzuimpfen". Genau das ist auch die Linie der Ständigen Impfkommission (Stiko). „Wir müssen jetzt die Risikogruppen, also Vorerkrankte und über 70-Jährige, impfen, alles andere macht keinen Sinn", so der Vorsitzende der Stiko, Professor Thomas Mertens gegenüber FORUM. Für Mertens ist es überhaupt nicht nachvollziehbar, warum nun auch die unter 60-Jährigen eine Drittimpfung bekommen sollen. „Das ist völlig sinnlos, denn die Infektionsverläufe zeigen eindeutig, dass gerade die unter 60-jährigen Geimpften meist recht milde Krankheitsverläufe nach einer Infektion haben", so Mertens. Für den Ulmer Virologen stellt sich die Gefahrenlage in diesem Herbst völlig anders dar, als für die handelnden Gesundheitspolitiker. „Nicht Ungeimpfte stellen die derzeit größte Aufgabe im Gesundheitssektor dar, sondern jetzt geht es wirklich nur darum, so schnell wie möglich die Risikogruppen über 60 zum dritten Mal zu impfen. Das sind die absolut gefährdeten Personen." Der Professor räumt mit noch einem weiteren Trugschluss der Politik auf, das Impfen der unter Zwölfjährigen. „Ich rate dringend davon ab, die unter Zwölfjährigen zu impfen, das ist zu früh. Soweit sind die Impfstoffe noch nicht erforscht, und wir wissen nicht, was die mRNA-Impfstoffe in einem noch wachsenden Körper ausrichten." Der Ulmer Professor warnt davor, sich an den USA ein Beispiel zu nehmen, wo bereits in den kommenden Wochen die ersten Corona-Impfstoffe für Kinder zugelassen werden. „Man kann das amerikanische Gesundheitssystem nicht mit den Deutschen vergleichen. Dort gibt es erheblich mehr vorerkrankte Kinder als hier. Durch die fehlende Vorsorge reagieren die Kinder in den USA dann wesentlich intensiver auf eine Corona-Infektion als bei uns", so der Chef der Ständigen Impfkommission. Doch die Warnung des Virologen Thomas Mertens wird nicht viel nutzen. Der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn rechnet damit, dass bereits vor Weihnachten ein Impfstoff für die Fünf- bis Zwölfjährigen durch die EU zugelassen wird und dann auch flächendeckend an den Grundschulen verimpft werden kann, wenn das die Eltern wollen. Damit ist klar: Spätestens nach den Weihnachtsferien wird es in Deutschland eine heftige Debatte darüber geben, auch die unter Zwölfjährigen zu impfen und ob nicht eine Impfpflicht an den Schulen sinnvoll wäre.
Rettung soll nun die 2G-Regelung Plus bringen, damit zumindest die Christmetten in den Kirchen ohne Probleme stattfinden können. Voraussetzung: Man muss dann geimpft oder genesen sein und dazu noch dem Pfarrer einen aktuellen Schnelltest vorweisen. Die gleiche Regelung könnte nun auch in den Pflegeeinrichtungen bei Verwandtenbesuchen greifen. Viel zu spät, wie Virologen egal welcher Fakultät, den politisch Handelenden vorwerfen. Für Virologen weiterhin völlig unverständlich, dass es in den Pflegeeinrichtungen bislang keine Testpflicht für Besucher und schon gar keine Impfpflicht für die Mitarbeiter gibt. Versagen auf ganzer Linie, schimpfen die Experten.
Zwingend notwendige politische Entscheidungen fallen in eine Zwischenzeit. Die ehemalige Große Koalition ist nur noch geschäftsführend im Amt, für den in dieser Situation durchaus entscheidenden Gesundheitsminister werden es die letzten Amtshandlungen sein. Eine neue Koalition ist noch im Begriff, sich zusammenzuraufen und dabei in den Verhandlungen in einer Phase, in der es naturgemäß knirscht und ruckelt.
Trotzdem haben die wohl künftigen Ampelkoalitionäre schon mal ein Corona-Gesetz im Bundestag eingebracht. Für die geschäftsführende Bundesregierung unter Kanzlerin Merkel ist der Vorgang mehr als gewöhnungsbedürftig, dokumentiert diese Gesetzesinitiative der noch im Entstehen begriffene Bundesregierung die weitgehende Handlungsunfähigkeit der Geschäftsführenden bei den Corona-Maßnahmen.
Eckpunkt des neuen Corona-Gesetzes soll die Wiedereinführung flächendeckender Bürgertests auf Kosten des Staates werden.
Alle Parteien im Bundestag sind sich einig, dass es der größte Fehler war, die kostenfreien Bürgertests abzuschaffen. Seit Mitte Oktober ist ein boomender Schwarzmarkt mit gefälschten Tests entstanden. Laut Robert Koch-Institut ist es derzeit fast unmöglich, eine Inzidenzlage, die der Wirklichkeit nahekommt, abzubilden. Im Internet gibt es mehrere Portale, auf denen man ganz legal negative Blankotests runterladen kann, nachdem man dort selber das tagesaktuelle Datum eingetragen hat. Das alles ist faktisch straffrei. Sollte man tatsächlich erwischt werden, wird es als eine Ordnungswidrigkeit geahndet. Die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, kann man allerdings nahezu ausschließen. Nun also sollen die kostenlosen Bürgertests wieder eingeführt werden.
Bürgertests abschaffen war ein Fehler
Weitere Maßnahme des geplanten Corona-Gesetzes ist die Testpflicht für Beschäftigte und Besucher in Pflegeeinrichtungen. Na endlich, stöhnen die Virologen. Seit Monaten drängen sie zumindest auf diese Maßnahme. An eine Impfpflicht für Beschäftigte wagen sich aber auch die zukünftigen Ampelkoalitionäre in ihrer Gesetzesinitiative nicht ran. Argument der Betreiber der Pflegeeinrichtungen: Mit einer Impfpflicht würde man Mitarbeiter verprellen. Sie befürchten eine Kündigungswelle in ihren Einrichtungen, in denen der Anteil Ungeimpfter nach wie vor erstaunlich hoch zu sein scheint. Dieser Auffassung ist im Übrigen auch der noch geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. „Es macht keinen Sinn, eine Impfpflicht mit dem Ergebnis einzuführen, dass dann reihenweise die Mitarbeiter kündigen", so Spahn gegenüber FORUM. Statt die Pflegekräfte durchzuimpfen steht nun das Boostern der Bewohner auf der Tagesordnung. Wobei sich Spahn und die Gesundheitsminister der Länder darauf geeinigt haben, dass generationenübergreifend die Drittimpfung verabreicht werden soll, was sich nicht mit dem Rat der Experten deckt.
Um die Booster-Aktion noch ein bisschen spannender zu gestalten, soll die dritte Auffrischungsimpfung für bereits Geimpfte nicht in Impfzentren stattfinden, die sollen zwar, soweit sie nicht schon abgebaut sind, weiterhin vorgehalten, aber dafür nicht in Betrieb genommen werden. An dieser Stelle konnte sich bei dem Booster-Konzept ganz offensichtlich die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) durchsetzen, denn das Boostern sollen die Hausärzte übernehmen. „Wir sind bereit und können sofort loslegen. Bereits im Frühjahr haben die Hausärzte bewiesen, dass sie die Impfkampagne bestens gemeistert haben", so KBV-Chef Andreas Gassen im FORUM-Interview. Gassen freut es natürlich, das seine Mitglieder in den kommenden Monaten reichlich zu tun bekommen. Aber auch er hat so seine Zweifel an einer generationenübergreifenden Booster-Kampagne.