Der rote Teppich im Berliner Museum für Fotografie liegt weiterhin. Aber er führt nicht – wie sonst direkt – zu den weltbekannten, übergroßen Fotos „Naked and Dressed" von Helmut Newton. Er leitet zu den Fotos der aktuellen Ausstellung „Helmut Newton. Legacy." in den ersten Stock.
Sie schaut nach unten und scheint noch zu überlegen, ob sie den Blick überhaupt zur Kamera richten soll. Zwar geht es auf dem Foto „Fashion, Melbourne" natürlich um den Hut, den die Frau trägt, aber er wird hier eher zum ergänzenden Element – ebenso wie der im Hintergrund unscharf abgebildete Mann. Die klaren Gesichtszüge des Models auf dem großformatigen schwarz-weißen Foto fangen den Betrachter unmittelbar ein und entführen auch ihn in eine andere Gedankenwelt.
Kaum zu glauben, dass diese auch heute so modern wirkende Aufnahme von Helmut Newton bereits 1955 entstand. Ein Jahr später arbeitete er dann schon für das australische Modemagazin „Vogue" und reiste durch Europa mit einem Vertrag der britischen Ausgabe. Alice Springs, Fotografin und Ehefrau, begleitete ihn. Ihre Fotos zeigen den jungen Newton auf der Europatour in Salzburg und Spanien in einem mintgrünen Raum.
Farblich unterlegte Zeitreise
Die Retrospektive ist in sechs Bereiche untergliedert, die sechs Schaffens-Dekaden des Fotografen entsprechen. Und die auch farblich zugeordnet wurden. Bis zu den 60er-Jahren werden die Werke an zarten mintfarbigen Wänden präsentiert. In den 70er-Jahren wird der Hintergrund blau, und die in den 80ern, 90ern und danach aufgenommen Werke hängen an orangefarbenen Wänden. Eine Zeitreise. Der Besucher wird so chronologisch durch die verschiedenen Phasen von Newtons Modefotografie geführt. Sein Blick auf die Mode ist laufende Entwicklung, ein Prozess. Er probiert Neues und setzt mit seiner Fotografie auf außergewöhnliche Ausdrucksformen, er entwickelt seinen eigenen fotografischen Stil.
„Storytelling war in den 1960er-Jahren zwar noch kein Begriff, den man in den Medien kannte, aber Newton nutzte es bereits für seine Modefotos", erzählt Matthias Harder, der Leiter des Museums für Fotografie. Newtons Fotos erzählen Geschichten, und seine Bilder werden dadurch spannend. Er lichtet nicht mehr nur Kleidung, Accessoires oder andere Produkte ab. Sondern er plant seine Fotoshootings bis ins letzte Detail. Er erarbeitet akribisch eine Dramaturgie für seine Motive. Dadurch entstehen Spannungsfelder, dadurch erzeugten die Aufnahmen oft ganz unterschiedliche Reaktionen bei den Betrachtern. Oft war nicht klar, wo die Wirklichkeit endete und die Inszenierung begann. Beeinflusst vom Zeitgeist, von James-Bond-, Truffaut-, Hitchcock- und Fellini-Filmen inszenierte Newton seine Fotos. Da agieren Models beispielsweise mit Schaufensterpuppen, ein Spiel mit dem Doppelgänger-Motiv. Oft erkennt man dabei das künstliche Double erst auf den zweiten Blick. Ein anderes Beispiel: Scharen von Fotografen umringen auf dem roten Teppich eine Frau, die auch entsprechend posiert – handelt es sich um eine berühmte Persönlichkeit? Als Betrachter ertappt man sich dabei, zu überlegen, um welchen Star es sich handeln könnte. Doch Newton lässt uns hier in die Falle tappen – der „Rummel um den Star" ist ein inszeniertes Foto mit Models.
Bis dahin eher unübliche Locations
Auffallend auch die bis dahin unübliche Locations, die Newton für seine Shootings als Bühne benutzt. Er ging hinaus aus den Studios, auf die Straße, in die Luxus-Restaurants und Hotels, suchte Glamouröses. Im Fokus seiner durchweg analogen Aufnahmen bleibt in seiner ganz persönlichen ästhetischen Form betrachtet und abgebildet die Mode. „Ich beobachte auf der Straße, überall. Wenn mich etwas anzieht, schreibe ich es auf und versuche, die Szene zu rekonstruieren."
Schauplatz ist die Rue Aubriot 1975 im Pariser Stadtteil Marais. Die Straße ist dunkel, knapp beleuchtet. Newton selbst wohnt unweit von dem Ort, an dem das androgyn wirkende Model in einem dunklen Hosenanzug von Yves Saint Laurent posiert und raucht. Ein Hingucker, eine Provokation. Deutete Newton damit eine Parallele zu Ludwig Kirchners Gemälde einer Berliner Kokotte an? Newton fotografierte eine moderne und selbstbewusste Frau in ihrer Zeit, stilgebend für die französische „Vogue" und ihre Leserinnen. Längst gehörten da nicht mehr nur die französische, britische und US-Ausgabe des Luxus-Modemagazins zu Newtons Auftraggebern, sondern auch die französische „Elle" sowie das Magazin „Queen" und der „Playboy". So erreichte der Fotograf mit seinen charakteristischen oft provokanten Aufnahmen ein Millionenpublikum. Seine Werke wurden in Galerien ausgestellt, in Museen gezeigt, in Bildbänden abgedruckt.
„Women are so much stronger than men in whatever situation." Das Helmut-Newton-Zitat überschreibt den Ausstellungsraum, in dem seine übergroßen Fotos „Naked and Dressed" zu sehen sind. Er fotografierte seine Modelle im gleichen Ambiente, modisch bekleidet sowie nackt in der gleichen Pose nur mit High Heels. In dieser Zeit provokant und skandalös, ebenso die lebensgroßen „Big Nudes". „Ich bin ein großer Feminist", „Pornografo, io?" ist in den Vitrinen mit ausgelegten Magazinen zu lesen. „Das bin eindeutig nicht ich selbst auf den Bildern. Es ist seine und meine Vorstellung. Ich liebte es, durch seine Linse jemand anderes zu sein, in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Er war immer auf der Suche nach den verschiedenen Facetten, die ich darstellen konnte." So erzählt es Claudia Schiffer über ihre Shootings mit Helmut Newton im Dokumentarfilm von Gero von Boehm.
Alles begann in Berlin
„Legacy" präsentiert Newtons Highlights sowie bisher Unbekanntes und Unveröffentlichtes. Darunter Originalmagazine, sein Magazin „Helmut Newton’s Illustrated", handschriftliche Notizen, Workprints und Polaroids. Kontaktabzüge zeigen in Folge belichtete Fotos, die sich nur in kleinsten Nuancen unterscheiden. Davon markiert Newton nur ein Motiv zur Weiterverarbeitung. Als Notiz schrieb er handschriftlich: „Ich bin kein Werbemann ich bin ein Fotograf und will als Fotograf sprechen. Ein Fotograf soll wie ein braves Kind sein, man soll es sehen, aber nicht hören."
Für Matthias Harder, Direktor der Newton Foundation Berlin, ist die Sichtung des Archivs ein andauernder Prozess. Für jede zukünftige Ausstellung wird im Archiv weiter nach vergessenem Bildmaterial geforscht. Bereits bei der kommenden Gruppenausstellung „Hollywood" wird es so wieder neue Bildmotive von Newton zu sehen geben.
June Newton, alias Alice Springs, widmete der Foundation zur aktuellen Ausstellung einen besonderen Raum. Ihre Fotos von Frauen wie Hanna Schygulla (1981), Catherine Deneuve (1984) und Gloria von Thurn und Taxis (1985) zeigen einfühlsame Porträts. June baute immer eine persönliche Beziehung zu ihren Models auf. Ganz im Gegensatz zu den inszenierten Fotos ihres Mannes. Sein exemplarisch fotografischer Stil bewog auch Carla Bruni (1993) mit freiem Oberkörper vor Newtons Kamera zu treten. Ihr Foto ist eines derjenigen, die in der Ausstellung „Legacy" erstmals öffentlich gezeigt werden. Newton fotografierte Musikgrößen wie David Bowie und Mick Jagger und Filmstars wie Sophia Loren und Catherine Deneuve. Aufgrund seiner einzigartigen Bildsprache wurde er von den großen Modehäusern engagiert, fotografierte für Chanel, Mugler, Prada, Yves Saint Laurent, stellte Fashion in skurril anmutenden Szenen dar und edle Produkte auf Autos oder vor seine eigene Garage in Monte Carlo.
Die Retrospektive „Legacy" zeigt das Lebenswerk des großen Fotografen, des Künstlers, Newton. Und June gehört dazu. Ihre Fotos in der Ausstellung zeigen ihren Mann 1956 sowie 40 Jahre später in Hollywood. Dabei begann für Helmut Newton alles in Berlin. 1920 als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Knopffabrikanten-Familie geboren, entdeckte er hier sein fotografisches Interesse mit einer kleinen Kamera, ließ sich bei der bekannten Berliner Modefotografin Yva ausbilden, bis er als Jude die Stadt verlassen musste. Er arbeitete und lebte in Australien, Europa und Amerika, in Melbourne, London, Paris, Monaco und Monte Carlo, in Los Angeles und New York. Ein Millionenpublikum sah seine Fotos in Magazinen, Büchern und Ausstellungen weltweit. „Legacy" ehrt nun den Künstler und Menschen Helmut Newton zu seinem 101. Geburtstag –
und zeigt die außerordentliche Bandbreite seines fotografischen Schaffens.