Manche Menschen haben viele Freunde, andere nur zwei oder drei sehr gute. Das hängt nicht nur davon ab, ob man introvertiert oder extrovertiert ist. Das menschliche Gehirn spielt bei der Größe unseres sozialen Netzwerkes eine entscheidende Rolle.
Wie viele Menschen jemand um sich schart, scheint Typ-Sache zu sein. Die eine kennt fast die ganze Stadt und kommt keine zehn Meter weit, ohne dass sich ein Plausch mit einer Bekannten ergibt. Dem anderen reichen zwei, drei enge Vertraute.
Dennoch ist die Zahl der Freunde nicht beliebig. Als Forscher das Sozialverhalten des Menschen näher betrachteten, zeigte sich: Beziehungsgeflechte folgen einem universellen Muster. Wie der britische Anthropologe Robin Dunbar in den 1990er-Jahren herausfand, können die meisten Menschen höchstens 150 Sozialkontakte gleichzeitig pflegen. Dazu zählen nicht nur Freunde, sondern alle Kontakte, die auf Vertrauen und gegenseitiger Unterstützung fußen – inklusive Nachbarn, Kollegen und Vereinskumpels. Die Besetzung kann sich im Laufe der Jahre ändern. Doch die Zahl selbst, nach ihrem Entdecker „Dunbar-Zahl" genannt, ist erstaunlich konstant.
Größe des Neokortex ist entscheidend
Ursprünglich erforschte Dunbar das Sozialverhalten von Primaten. Dabei stieß er auf einen Zusammenhang: Je größer das Gehirn, desto größer die Gruppen, zu denen sich eine Affenart zusammenrottete. Entscheidend war, welchen Anteil am Gehirn das Volumen des Neokortex hatte, also des evolutionär jüngsten Teils der Großhirnrinde, der höhere kognitive Fähigkeiten ermöglicht. Mit steigender Komplexität der Affengesellschaften war offenbar mehr Grips gefragt: Sich auf dem sozialen Parkett geschickt zu bewegen, ist eine erstaunliche Leistung – auch bei unseren Verwandten im Tierreich. Wächst eine Gruppe über das typische Limit einer Spezies hinaus, reicht die neuronale Kapazität zur Verarbeitung sozialer Information nicht aus. Die Affen schaffen es nicht mehr, ihre Kontakte zu koordinieren, und die Gruppe zerfällt. Deshalb haben Lemuren einen kleineren Freundeskreis als Makaken.
Als Dunbar den Menschen anhand der Maße seines Denkorgans in diesem Spektrum einordnete, landete er bei den berühmten 150 – eine Spitzenleistung im Tierreich. Der Mensch hat, im Vergleich zu allen Primaten, den größten Neokortex – und somit die größte Kapazität für viele Beziehungen. Sein „soziales Gehirn" ist besonders ausgereift. Es besteht unter anderem aus dem dorsomedialen Präfrontalkortex und der temporoparietalen Übergangszone. Diese Hirnareale sind an der sogenannten Mentalisierung beteiligt: der Fähigkeit, anderen eigene Gedanken, Gefühle und Absichten zuzuschreiben. Kinder entwickeln diese Fähigkeit mit ungefähr vier Jahren. Daneben braucht es für ein komplexes Sozialverhalten auch ein gutes Gedächtnis. Nur so können wir uns die vielen Gesichter und zugehörigen Namen merken und uns an frühere Begegnungen erinnern. Teile des Temporalkortex helfen uns außerdem, Körperhaltung und Blickrichtung des Gegenübers zu erfassen. Bei der Verarbeitung von Emotionen im Miteinander spielt die Amygdala, ein Teil des limbischen Systems, eine entscheidende Rolle. 2011 zeigten Forschende um Kevin Bickart von der Boston University School of Medicine, dass Menschen mit einem relativ großen Freundeskreis im Schnitt über ein größeres Amygdala-Volumen verfügen. Neben der Kapazität des sozialen Gehirns setzt auch schlicht die verfügbare Zeit dem Gemeinschaftssinn Grenzen. Denn: Beziehungspflege dauert. Gemessen an der Zeit, die Affen mit dem gegenseitigen Putzen und Lausen verbringen, käme Homo sapiens mit seinen bis zu 150 Gefährten zu nichts anderem mehr. Dunbar glaubt deshalb, dass an einem Punkt der menschlichen Evolution die sozialen Gruppen derart anwuchsen, dass es nötig wurde, Sprache zu entwickeln. Verbale Streicheleinheiten ließen sich schließlich an mehrere Kumpane gleichzeitig verteilen und ermöglichten nebenbei noch andere Tätigkeiten. Trotz unserer Wortgewandtheit begrenzt auch heute noch die verfügbare Zeit unser soziales Universum. Sich ab und an zum Kaffee treffen, regelmäßig zu telefonieren und gemeinsame Ausflüge: Für all das findet sich nur begrenzt Kapazität in unserem Terminkalender.
Begrenzte Zahl an Freunden im Leben
Belege für die „Dunbar-Zahl" finden sich über verschiedene Kulturen und Epochen hinweg. Soviel man heute weiß, rotteten sich schon Sippen von Jägern und Sammlern zu regionalen Gruppen von etwa 150 zusammen. Als die Menschen sesshaft wurden, bildeten sie jungsteinzeitliche Siedlungen mit 120 bis 150 Bewohnern. Eine der ältesten bekannten Volkszählungen – beauftragt von König Wilhelm I. im Jahr 1086 – zeigt, dass das durchschnittliche englische Dorf damals 150 Personen beherbergte. Die Gemeinden der Hutterer, eine nordamerikanische Glaubensgemeinschaft ähnlich den Amisch, umfassen heute noch maximal 150 Personen. Übersteigt die Einwohnerzahl 150, gründen sie eine neue Gemeinde. In größeren Kommunen werden die Menschen zu Fremden, so ihre Befürchtung. Auch die Gruppengröße im Militär folgt diesem Aufbau – vom römischen Heer bis zu heutigen Armeen: In der Regel bilden drei Abteilungen von jeweils um die 15 Personen einen Zug von 40 bis 50 Soldaten und Soldatinnen. Drei Züge bilden eine 150 Personen starke Kompanie. Auch die Vielfalt der Beziehungen erfordert geistige Ressourcen. Denn mit unseren engsten Vertrauten pflegen wir einen ganz anderen Umgang als mit weitläufigen Bekannten. So lassen sich gemäß Dunbars Modell verschiedene Grade der Verbundenheit ausmachen: Die meisten zählen zehn bis 15 Personen zu ihren Freunden; drei bis fünf davon sind die engsten Vertrauten. Mit diesem inneren Kreis haben die meisten mindestens einmal pro Woche Kontakt und teilen mit ihnen tiefste Sorgen und Geheimnisse. Der Kreis der guten Bekannten beläuft sich laut Dunbar auf etwa 50.
Dass ein Leben nur für eine begrenzte Zahl von Freunden Platz hat, ist in der Wissenschaft weitgehend anerkannt. Über das Limit wird jedoch weiter debattiert. Neuere Studien kommen anstelle von maximal 150 inzwischen auf bis zu 200 Kontakte. Auch Dunbar hat seine alte Grenze ein wenig verschoben – auf 180 Personen. Das sei den sozialen Online-Netzwerken wie Facebook, Twitter und Instagram zu verdanken: Sie erleichtern es, Kontakt zu sehr vielen Menschen zu halten. Einer US-Studie zufolge wuchs der Freundeskreis schon in den Nuller-Jahren mit dem Aufkommen der ersten sozialen Online-Medien. Doch selbst Facebook und Whatsapp ermöglichen keine grenzenlosen Kontakte. Eine Studie unter 1,7 Millionen Twitter-Nutzern zeigte: Sie unterhielten zu höchstens 100 bis 200 virtuellen Bekannten stabile Beziehungen. Auch die Online-Kommunikation hat ihre Grenzen.
Doch trotz des relativ einheitlichen Limits gibt es Unterschiede, wie viele Bekanntschaften wir unterhalten. Woran liegt es also, dass manche einen großen Freundeskreis haben, während andere eher als Einsiedler leben? Eine 2016 erschienene Studie, die den Charakter sowie den Freundeskreis von 525 Probanden analysierte, zeigt: Extrovertierte sind nicht nur kontaktfreudiger, sondern scharen auch tatsächlich mehr Menschen um sich. Allerdings betraf das, anders als in früheren Untersuchungen, nur die Anzahl der engsten Vertrauten. Die Gesamtzahl der Freunde war bei Extravertierten und Introvertierten mit rund 15 interessanterweise gleich. Auch standen die geselligen Versuchspersonen ihren Freunden nicht näher als die stilleren. Die emotionale Verbundenheit mit ihrem „Inner Circle" war bei Introvertierten genauso groß.
Dass manche das Potenzial ihres sozialen Gehirns nicht ausschöpfen, kann auch an einer psychischen Erkrankung liegen, meint der Psychiater und Interaktionsforscher Leonhard Schilbach: „In unserer Ambulanz für Störungen der sozialen Interaktion stellen sich viele Menschen vor, die Schwierigkeiten haben, Kontakte zu knüpfen. Zu den Störungen, die die Verschaltung des sozialen Gehirns beeinflussen, gehört etwa die Depression."
Das Geschlecht scheint für den Umfang des sozialen Netzwerks eine untergeordnete Rolle zu spielen. Zwar gibt es Hinweise, dass Frauen mehr enge Vertraute haben als Männer. Eine Auswertung von Umfragedaten von über 25.000 US-Amerikanerinnen und -Amerikanern ergab aber keinen nennenswerten Geschlechterunterschied.