Ambitionierte Klimapolitik und Haushalts-Stabilität gehen nur schwer zusammen
Das Ampelbündnis startet mit ehrgeizigen Überschriften. „Mehr Fortschritt wagen", lautet das Motto des Koalitionsvertrags von SPD, Grünen und FDP. Eine Anspielung auf die große Reformfanfare, mit der Willy Brandt 1969 ein neues sozialliberales Zeitalter einleitete. „Mehr Demokratie wagen", so hieß damals der Schlachtruf zur Beendigung der knöchernen Adenauer-Ära. Der obrigkeitsstaatliche Muff sollte weggefegt werden.
Wie Willy Brandt will auch der designierte Kanzler Olaf Scholz heute eine umfassende Transformation von Politik und Gesellschaft. Seine Devise: Weg mit dem Mehltau der 16 Merkel-Jahre, die vor allem aus Krisen-Management (Finanzsystem, Griechenland, Euro, Flüchtlinge, Corona) bestanden. Auf der Strecke oder unvollendet blieben die Digitalisierung des Landes, der Wohnungsbau sowie die Umstellung auf erneuerbare Energien.
Der Sozialdemokrat Scholz strebt in seiner Dreierallianz einen Quantensprung der Politik an – und zwar in Inhalt und Stil. Die drei Parteien im Kabinett sieht er nicht als zentrifugale Kräfte, die sich im Zweifel streiten wie die Kesselflicker. So galt die FDP bei den Grünen vor nicht allzu langer Zeit als Sturmtruppe von Neoliberalen, die die Wirtschaft den Kräften des Marktes unterordnen wollte. Umgekehrt hakten die Liberalen die Öko-Partei als spinnerte Weltverbesserer ab.
Scholz betrachtet den Meinungsbildungsprozess in der Ampel nicht als These und Antithese, sondern als Synthese, in denen sich die Gegensätze aufheben. Die Grünen bekommen laut Koalitionsvertrag das Versprechen, dass sich die Stromproduktion in Deutschland bis 2030 zu 80 Prozent statt heute 45 Prozent aus erneuerbaren Energien speist. Zudem sollen zwei Prozent der Landesfläche für Windräder ausgewiesen werden, doppelt so viel wie heute.
Die FDP wiederum hat durchgesetzt, dass die Schuldenbremse nicht aufgeweicht wird. Zudem soll es keine neuen Substanzsteuern – etwa auf Vermögen – oder Steuererhöhungen geben. Auch das Tempolimit wurde gekippt. Die SPD darf sich in der Regierung als Anker der sozialen Gerechtigkeit profilieren. Eckpunkte: Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro pro Stunde, Stabilität der gesetzlichen Rente.
Das Ergebnis dieser Synthese ist für Scholz ein politisches Monumental-Projekt. Es besteht aus ökologischer Umsteuerung von Wirtschaft und Gesellschaft, Finanz-Stabilität und Innovations-Offensive sowie sozialer Balance. Das sind die Unterabteilungen des Labels „Fortschritt", das der neue Kanzler für die Ampel in Anspruch nimmt.
Stilistisch wird dies flankiert von neuen politischen Umgangsformen. Die drei Parteien haben „Respekt" und „Vertrauen" zu ihren Leitvokabeln erkoren. In einem Kraftakt von Disziplin gelang es, während der Sondierungs- und Koalitionsgespräche den Eindruck von maximaler Geschlossenheit und Harmonie zu verbreiten – ein Novum in der deutschen Politik.
Die Ampel bietet eine Chance, den Stillstand der Merkel-Jahre zu überwinden. Begünstigt wird dies durch den Hunger der Koalitionäre zu regieren. Die SPD will sich endlich aus der tödlichen Umarmung der „Groko"-Kanzlerin befreien. Die Grünen wittern nach dem Ende der rot-grünen Ära 2005 wieder Morgenluft.
Die FDP drängt es nach den im März 2017 geplatzten Jamaika-Gesprächen mit Macht ins Kabinett. Parteichef Christian Lindner verfolgt zudem einen strategischen Plan: Ihm schwebt vor, die Liberalen als Kraft der Mitte zu positionieren und im Wählerreservoir der verunsicherten und gelähmten Union zu fischen. Er scheint heute kompromissfähiger als früher.
Doch halten die Absichts- und Willensbekundungen der Wirklichkeit stand? Wie viel Substanz steckt hinter der Inszenierung? Nach der Lebenserfahrung sind zumindest Zweifel angebracht. Viel wird davon abhängen, inwieweit der formelle Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und der informelle Auch-Vizekanzler Christian Lindner (FDP) der Versuchung widerstehen können, sich in Machtspielen der Alphamänner zu verhaken.
Darüber hinaus gilt es zu beobachten: In welchem Maße will und kann Lindner sein Ziel der Haushalts-Stabilität dehnen, um die Forderung von Grünen und SPD nach Milliarden-Investitionen für die ökologisch-soziale Justierung der Gesellschaft zu erfüllen? Es ist eine der Kernfragen, die über den Bestand der Ampelkoalition entscheidet.