Langstreckenverbindungen auf der Schiene gelten als klimafreundliche Alternative zum Flugzeug. Daher setzen zunehmend mehr Bahnunternehmen Nachtzüge ein.
Was haben der 31. amerikanische Präsident, eine Tänzerin aus den Niederlanden und ein armenischer Ölmagnat gemeinsam? Herbert Hoover, Mata Hari und Calouste Gulbenkian waren Gäste im Orient-Express. Die Bahn war ein aus Schlaf- und Speisewagen zusammengesetzter Luxuszug, der erstmals am 5. Juni 1883 vom Pariser Bahnhof Gare de l’Est nach Konstantinopel fuhr. Fahrgäste waren Politiker, Diplomaten, Industrielle, Künstler und Adelige. Viele Legenden ranken sich um den Zug. So soll 1896 der Armenier Calouste Gulbenkian, angeblich damals der reichste Mann der Welt, auf seiner Flucht vor den Türken seinen kleinen Sohn Nubar in einem Teppich versteckt haben und mit ihm in den Luxuszug gestiegen sein. Das Kind war damals erst wenige Monate alt. Der Orient-Express wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingestellt. Reisende stiegen auf schnellere Verkehrsmittel um. Es folgte der Boom der Flugreisen.
Die Züge sollen mehr Komfort bieten
Nun scheint sich der Trend umzukehren: Nachtzüge sind wieder en vogue. Eine Art Express d’Orient-2.0 könnten die französischen Midnight Trains werden. „Hotels auf Schienen", so beschreibt Romain Payet, Mitbegründer des Start-ups, das geplante Angebot gegenüber FORUM. „Wir wollen einen neuen Standard für Nachtzüge schaffen", erklärt Payet weiter. „Wir sind der Meinung, dass es in einfachen Nachtzügen drei große Probleme gibt: mangelnde Privatsphäre, wenn man ein Abteil mit Fremden teilt, schlechte Verpflegung, obwohl die meisten Reisenden an Bord zu Abend essen wollen, und wenig digitale Dienste, die das Erlebnis verbessern." Mit den Midnight Trains wolle man diese Probleme lösen. Es soll aber „keine Luxusangelegenheit" werden, sondern „wir glauben einfach, dass wir einen neuen Maßstab für Nachtzüge setzen müssen, wenn wir Reisende davon überzeugen wollen, nicht mehr zu fliegen". Das heißt: private Kabinen, ein gutes Bar- und Restaurant-Angebot, ein durchgängiges digitales Erlebnis und ein neues, modernes Design. Die Midnight Trains sollen ein saisonales Menü mit ausgesuchten Weinen anbieten – gedacht für ein breites Klientel „mit einem Zimmerangebot, das für jeden Geldbeutel geeignet ist", sagt Payet. Das reiche von einfachen Einzelkabinen bis hin zu „Suiten mit einem Doppelbett und eigener Dusche und WC". Generell will das Start-up-Unternehmen mit seinen Nachtzügen sternförmig durch fast ganz Europa unterwegs sein, sie sollen die Städte Madrid, Lissabon, Porto, Mailand, Venedig, Florenz, Rom, Wien, Prag, Budapest, Berlin, Hamburg, Kopenhagen und Edinburgh anfahren. Bis Ende 2024 soll eine der ersten Strecken mit zwei Schlafwagenzügen in Betrieb genommen werden. „Die erste Route steht noch nicht fest, wird aber höchstwahrscheinlich von Paris nach Italien oder Spanien verlaufen", sagt der Mitgründer.
Dass jene Nachtzüge dem Wunsch der Kunden nach nachhaltigem Reisen entspricht, wissen die Macher, und sie werben damit: „Eine Reise zwischen Paris und Rom wird an Bord von Midnight Trains pro Fahrgast 23-mal weniger CO2-Emissionen verursachen als an Bord eines Flugzeugs auf derselben Strecke", heißt es denn auch in der Unternehmensbroschüre. Auch ein aktueller Report von OBC Transeuropa verweist auf die unverhältnismäßig hohe Klimabelastung durch Kurzstreckenflüge. Demnach emittiert ein Flieger allein auf einer Strecke zwischen Frankfurt und Berlin zwölfmal mehr Kohlendioxid als ein Zug. Die Studie hat auch Reisedauer und Verfügbarkeit von Kurzstrecken mit dem Flieger im Vergleich zur Bahn untersucht. Demnach benötigen Reisende für ein Drittel der 150 wichtigsten Flugstrecken innerhalb der EU, die auch mit dem Zug bedienbar sind, eine halbe Tagesreise auf der Schiene. „81 Millionen europäischen Fluggästen stehen Zugverbindungen unter sechs Stunden zur Verfügung", heißt es dort. Allerdings gab es im Jahr 2021 nur für 27 Prozent der 150 meistgenutzten Flüge innerhalb der EU Direktnachtzug-Alternativen.
Berliner müssen auf Nachtzüge noch warten
Ein gutes Gespür für den Nachhaltigkeitstrend auf der Schiene haben auch die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) bewiesen, indem sie vor einigen Jahren mit den „Nightjets" Nachtreisezüge auf die Schienen gebracht haben „Die ÖBB haben 2016 die richtigen Entscheidungen getroffen, in das Nachtzug Geschäft einzusteigen, als andere es aufgaben", sagt der Pressesprecher der ÖBB Bernhard Rieder. Sie hätten in letzten Jahren das Nightjet-Netz konsequent ausgebaut und heute sei der Nightjet ein Synonym für klimafreundliches Nachtreisen in Europa. Das Angebot scheint gerne angenommen zu werden: 2019, im Jahr vor Corona, hätte man 1,5 Millionen Fahrgäste gehabt, „Tendenz steigend", so der ÖBB-Sprecher. „Auch diesen Sommer sind wir praktisch ausgebucht gewesen." Seit Dezember „bieten wir bereits 20 eigene NJ-Linien an", erläutert Rieder weiter. Eingesetzt werden ab diesen Monat in Kooperation mit der Deutschen Bahn und der SNCF zwei neue Nachtlinien: Eine Route führt von Zürich über Frankfurt nach Amsterdam. Und eine andere von Wien über München und Strasbourg nach Paris. Die Ausstattung und die Preisklassen der Nightjets sind unterschiedlich. So kostet eine Fahrt über Nacht im Sitzwagen von Düsseldorf nach Wien ab 29 Euro, während man für die Reise im Schlafwagen mit mindestens 139 Euro sehr viel tiefer in die Tasche greifen muss. Dafür gibt es ein frisch bezogenes Bett, ein Waschbecken und einen Aperitif am Abend sowie Weckservice und ein Frühstück à la carte am Morgen. Das Deluxe-Abteil wartet ähnlich wie die Midnight Trains mit eigenem Bad samt Dusche und WC auf.
Lässt es sich bald per Nachtzug bequem durch ganz Europa fahren? Eher nicht, denn manche Strecken wurden entgegen dem Trend auch wieder eingestampft. So etwa müssen die Fahrgäste seit einer Woche auf den Nachtzug von der deutschen Hauptstadt nach Südpolen verzichten. Die Strecke Berlin über Krakau nach Przemyśl nahe der ukranischen Grenze wurde laut einem Bericht der „Berliner Zeitung" eingestellt. Die frühe Ankunft um 4.08 Uhr sei extrem unattraktiv, so eine Sprecherin des polnischen Betreibers PKP Intercity gegenüber dem Blatt. „Fahrgäste im Schlafwagen erwarten, dass sie die ganze Nacht im Zug verbringen können. Sie finden es unattraktiv, wenn sie ihr Ziel zu früh erreichen", so die Sprecherin gegenüber der Tageszeitung. Dem Bericht zufolge hatte sie auch auf Gleisbauarbeiten in der Region Krakau verwiesen.
Immerhin gibt es noch eine Tagesstrecke. Vielleicht müssen sich manche Reisende noch ein wenig gedulden mit ihrem Wunsch nach einem durchgängigen, transeuropäischen Nachtliniennetz auf Schienen. Das Angebot soll in den kommenden Jahren auf weitere Strecken erweitert werden. Ab Ende 2023 sind auch zwischen Berlin und Brüssel sowie zwischen Berlin und Paris Verbindungen geplant.