Mitte Juli wird Corona als alles beherrschendes Thema kurzzeitig abgelöst – doch es ist eine weitere Naturkatastrophe, die die Pandemie verdrängt. Und gemessen an den Todesopfern ist es seit der Sturmflut 1962 an Elbe und Weser die schwerste ihrer Art in Deutschland.

Insgesamt 184 Menschen verlieren ihr Leben, nachdem starke Sturzfluten und Überschwemmungen selbst kleine Flüsse zu reißenden Bestien werden lassen. Am stärksten betroffen ist Rheinland-Pfalz, wo 134 Menschen sterben, alleine 133 im Landkreis Ahrweiler. In Nordrhein-Westfalen finden 47 Bürger den Tod, in Bayern, Sachsen und Baden-Württemberg jeweils eine Person. Mit einer angenommenen Schadensumme von 20 Milliarden US-Dollar alleine in Deutschland ist es das teuerste Flutereignis Europas.
Die geschätzte Summe insgesamt beträgt 25 Milliarden Dollar, denn nicht nur Deutschland, auch Nachbarländer wie vor allem Belgien sind schwer getroffen. In den Niederlanden werden 10.000 Menschen evakuiert. In Kroatien melden die Behörden teilweise 183 Liter Regenfall pro Quadratmeter. In Luxemburg ist teils der Schienenverkehr nach Frankreich lahmgelegt. In Niederösterreich, dem nach Einwohnern zweitgrößten Bundesland unseres Nachbarn, kommt es zu rund 600 Einsätzen der Feuerwehr, als Brücken einstürzen und die Enntalstrecke nach einem Felssturz gesperrt werden muss. In der ungarischen Hauptstadt Budapest regnet es stellenweise innerhalb weniger Stunden bis zu 100 Millimeter.
Betroffen ist auch Großbritannien, wo sich beispielsweise die Straßen Londons in reißende Bäche verwandeln. Im Königreich trifft das Tiefdruckgebiet Bernd auch zuerst auf europäischen Boden. Bernd ist zum großen Teil für die verheerenden Auswirkungen vor allem in Deutschland und Belgien verantwortlich.
Das Tief wird im Westen und im Osten von zwei Hochdruckgebieten eingesäumt, was zu einer unguten Kombination aus warmer und feuchter Luft führt. Diese kommt aus dem Mittelmeerraum zu uns und führt zu den riesigen und fatalen Mengen an Niederschlag. Die warme und feuchtere Luft schiebt sich über die kühle von Bernd. Da sich das Tief nur langsam bewegt und die warme Luftschicht abregnet, kommt es zu diesen lokalen Katastrophen.
Tausende Helfer errichten Notbrücken

Zwischen dem 12. und dem 19. Juli erwischt es die Bundesrepublik besonders hart – das Ahrtal wird zum Synonym für Zerstörung. Straßen werden unterspült; so steigt das Wasser auf der Bundesstraße 265 bei Erftstadt auf etwa siebeneinhalb Meter. Ganze Stücke davon werden einfach weggespült, dazu Straßenschilder, Leitplanken, Lärmschutzwände, Ampeln, Böschungen. Mehrere Brücken – diese Symbole der verbindenden Menschlichkeit –
werden irreparabel beschädigt. Tausende Helfer, etwa vom THW, helfen dabei, Notbrücken zu errichten, damit überhaupt wieder Verkehr fließen kann. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer ruft den militärischen Katastrophenalarm aus, damit die Bundeswehr helfen kann.
Mittendrin in der großen Katastrophe: die menschlichen Schicksale im Kleinen. Da ist die Tragödie von zwölf Bewohnern einer Einrichtung der Lebenshilfe in Sinzig, die sich nicht vor den dramatisch schnell ansteigenden Fluten retten können und sterben. Da ist die Geschichte eines Mannes, der mit ansehen muss, wie seine Frau weggerissen wird und ertrinkt – wäre er zur Hilfe geeilt, wäre er wohl selbst umgekommen. In Ahrbrück versucht eine fünfköpfige Familie, sich aufs Dach zu retten. Die Mutter sendet noch ein Video, ihre letzten Worte: „Unser letzter Fluchtweg ist bald abgeschnitten." Sie alle sterben.
Hunderte Häuser sind unbewohnbar. Die Menschen leben teilweise im Schutt und stehen vor dem Nichts. Nach der Jahrhundertflut kommt eine Welle der Hilfe. Millionen Bürger spenden auf verschiedenste Weise, etwa für die „Aktion Deutschland Hilft", einem Bündnis von Hilfsorganisationen. Dadurch soll schnelle und koordinierte Unterstützung geleistet werden. Die Hilfe wird über Krisenstäbe koordiniert, zu denen die Verwaltungen, Polizei, Feuerwehr, THW, Hilfsorganisationen oder Experten wie Baustatiker gehören.
Es packen aber auch Tausende Freiwillige an. Aus der gesamten Republik kommen sie angefahren, müssen anfangs sogar teilweise gestoppt werden, da sie die eh nicht oder nur kaum befahrbaren Straßen zusätzlich blockieren. Doch in den Monaten seit den Fluten packen sie an, organisieren und helfen, wo sie nur können. Auch zur Weihnachtszeit, als die Betroffenen medial durch die vierte Corona-Welle etwas in den Hintergrund rücken, zeigt sich das große Herz. Mit zahlreichen Aktionen in verschiedenen Orten helfen sie dabei, den Kindern ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern und den Erwachsenen Hoffnung zu geben.
Warnungen nicht ernst genommen

Das ist auch bitter nötig. Denn nicht nur die Aufmerksamkeit der Zeitungen, Rundfunkstationen, TV-Sender und Onlineportalen lässt nach. Vielfach wird auch immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die versprochenen Bundeshilfen nicht, nur zögernd oder viel zu langsam fließen. Doch Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) verkündet stolz: „Bund und Länder nehmen 30 Milliarden Euro in die Hand, um den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern vor Ort, den geschädigten Unternehmen und anderen Einrichtungen beim Wiederaufbau zu helfen. Das ist gelebte Solidarität. Mit vereinten Kräften stemmen wir das!"
Andere Bürger versuchen, die Notlage zu instrumentalisieren und verbreiten falsche Hoffnung und vermeintliche Solidarität. Rechtsradikale, Rechtsextreme und Querdenker schummeln sich unter die Helfer und versuchen, ihre Ideologien aufzuweichen und positiv zu verknüpfen. Außerdem verbreiten sie falsche Meldungen, etwa dass ein „Fluthilfe-Fonds" von 2013 auch eingerichtet worden sei, um jetzt Geflüchteten unter die Arme zu greifen. Sie wollen zudem erkennen lassen, dass der Staat zu schwach oder auch einfach inkompetent sei.
Leider geben staatliche Institutionen und kommunale Verwaltungen vor, während und nach der Katastrophe mitunter tatsächlich kein gutes Bild ab. Neben den zäh fließenden Mitteln wird bekannt, dass eine Warnung vor den Wassermassen wohl schon relativ früh an die Kommunen weitergegeben wurde. Der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz (SPD) sagt: „Glauben Sie mir, wie oft ich darüber nachdenke." Seiner Meinung nach hätte man evakuieren können – dies falle aber in die Entscheidungskompetenz des Kreises.

Später wird bekannt, dass das Europäische Hochwasserwarnsystem bereits am 8. Juli eine hohe Wahrscheinlichkeit von Überschwemmungen voraussagte – also einige Tage vor der Katastrophe. Noch am 12. Juli informiert der Deutsche Wetterdienst laut tagesschau.de „mehr als 100 Kontakte in Rheinland-Pfalz, darunter Kreisverwaltungen und Feuerwehren". Der DWD konkretisiert am Folgetag: „Die nächsten Tage haben es in sich."
Stark in den Fokus gerät im Nachhinein Jürgen Pföhler (CDU), Landrat des Kreises Ahrweiler. Man wirft ihm vor, zu spät Maßnahmen für eine Teilevakuierung zu treffen und viel zu spät den Katastrophenfall auszurufen. Als er Letzteres dann doch tut, reißen die Wassermassen bereits die ersten Häuser nieder. Pföhler ruft dazu auf, sich in die obersten Stockwerke zu begeben. Er selbst streitet jegliche Vorwürfe ab und erklärt stattdessen, für die Alarmierung der Bevölkerung sei die technische Einsatzleitung verantwortlich gewesen.
Bereits am 6. August leitet die Staatsanwaltschaft Koblenz ein Ermittlungsverfahren gegen Pföhler und ein Mitglied des Krisenstabes ein. Die schwere Anschuldigung: Es bestehe ein Anfangsverdacht auf fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassen. Nachdem er seit dem
11. August krankgeschrieben ist, stellt er im September einen Antrag auf Versetzung in den Ruhestand wegen dauernder Dienstunfähigkeit. Bereits Mitte August kommt die CDU-Kreistagsfraktion zur Erkenntnis, dass es in der Vergangenheit und am Tag der Katastrophe Versäumnisse und Fehler gegeben habe. Das Vertrauen der Menschen in die Arbeit von Pföhler sei „nicht mehr gegeben".