Da die für den Nährstoffbedarf sorgende Fotosynthese tagsüber abläuft, dachte man bislang, dass Bäume bei Sonnenlicht wachsen. Schweizer Forscher haben nun nachgewiesen, dass die Pflanzen dank höherer Luftfeuchtigkeit vor allem nachts gedeihen.
er hat’s entdeckt? Die Schweizer! Es mutet schon ziemlich seltsam an, dass sich in Zeiten, in denen der Mensch die Geheimnisse der Mars-Oberfläche zu enthüllen versucht, eine eklatante Lücke im elementarsten Bio-Wissen quasi direkt vor der Haustür aufgetan hat. Denn die bislang global akzeptierte Annahme, dass Bäume wegen der unter Sonneneinstrahlung funktionierenden und den Nährstoffbedarf der Pflanze deckenden Fotosynthese nur tagsüber wachsen können, wurde jüngst durch Forschungen eines Teams unter Federführung der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) widerlegt. Die Wissenschaftler rund um den Ökophysiologen Dr. Roman Zweifel konnten in der weltweit ersten umfassenden Studie mit einer Laufzeit von acht Jahren exakt das Dickenwachstum von Baumstämmen analysieren. Dafür hatten sie mit jeweils stündlicher Datenauflösung 170 Buchen, Fichten, Eichen und vier weitere häufige Arten in Schweizer Wäldern an 50 Standorten beobachtet.
Nach Auswertung von 60 Millionen Daten veröffentlichte das Team seine Erkenntnisse im Fachmagazin „New Phytologist". Sie waren zur überraschenden Erkenntnis gelangt, dass die Bäume vorwiegend nachts ihre wesentliche Wachstumsphase haben – meist zwischen Mitternacht und dem frühen Morgen –, während tagsüber das Volumen kaum nennenswert zulegt. Das Baumwachstum ist daher nur auf wenige Stunden beschränkt und findet laut den Forschern zudem nur an vergleichsweise wenigen Tagen statt – je nach Baumart aufsummiert gerade einmal an 15 bis 30 Tagen über die wesentlich längere Vegetationsperiode hin. Angesichts des in Windeseile fortschreitenden Klimawandels, bei dem den Bäumen durch Bindung des schädlichen Treibhausgases CO2 eine zentrale Rolle zukommt, könnte das neue Wissen über das Baumwachstum eminent wichtig sein. Insbesondere, so die Forscher, „wenn es um langfristige Vorhersagen der Kohlenstoffspeicherung von Wäldern unter zunehmend trockenen Bedingungen geht". Auch bei konkreten Maßnahmen zur Regeneration der Wälder oder für die Gewinnung des CO2-neutralen Rohstoffs, Baumaterials und Energielieferanten Holz könnte das Studienergebnis sehr hilfreich sein.
Studie lief über acht Jahre
Zur Bewältigung der Mammutarbeit konnte sich die WSL, eines der weltweit führenden Waldforschungsinstitute, unter anderem die Mitwirkung der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETF) und des in Witterswil ansässigen Instituts für Angewandte Pflanzenbiologie (IAP) sichern. Die bei der Studie berücksichtigten Baumstandorte gehören zum Umwelt-Monitoring-Netzwerk „TreeNet". Dabei registrieren die Forscher seit 2011 in Schweizer Wäldern neben Informationen über die Trockenheit von Luft (Stichwort: Sättigungsdefizit, das angibt, wie viel Wasserdampf Luft noch bis zur Sättigung aufnehmen kann) und Boden (Stichwort: Bodenwasserpotenzial) auch automatisiert die Radiusveränderungen von Baumstämmen systematisch. Das wichtigste Hilfsmittel zum Messen des Baumwachstums ist ein sogenannter Punktdendrometer, der kontinuierlich hochpräzise Änderungen im Baumradius in Mikrometerauflösung anzeigen kann und am Stamm angebracht wird. Das Gerät zeichnet stündlich das von der Wasserversorgung des Baumes abhängige An- und Abschwellen der Rinde sowie die Radiusveränderungen des Stammes auf.
Nach Auswertung der Daten konnten die Forscher zunächst einmal feststellen, „dass die Wahrscheinlichkeit des Baumwachstums über die 24 Stunden eines Tages stark variiert". Wobei die Schwankungen vom Wachstum der Holz- und Rindenzellen, durchschnittlich etwa einen bis fünf Mikrometer pro Stunde, überlagert worden seien. Die Messungen lieferten dann aber den klaren Nachweis, dass das Wachstum kaum tagsüber stattfindet, die frühen Nachmittagsstunden zwischen 14 und 16 Uhr sogar die Zeit der Wachstumsminima sind. Die Bäume sind gewissermaßen nachtaktiv. Wobei die Rotbuche so etwas wie der Frühaufsteher ist. „Die Rotbuche erreichte gegen 1 Uhr nachts den Höhepunkt ihres Wachstums", so Dr. Roman Zweifel, „die anderen Baumarten hatten ihre größten Wachstumsschübe zwischen 2 Uhr nachts und 6 Uhr morgens." Die meisten Wachstumsstunden wiesen Rotbuche und Tanne auf, die wenigsten Eiche und Kiefer. Zusätzlich konnten die Forscher ermitteln, dass sich das Baumwachstum im Rahmen der gesamten Vegetationsperiode je nach Art auf 15 bis 30 Tage beschränkte.
Die nächste Aufgabe der Wissenschaftler bestand nun darin, Erklärungen für die begrenzte Wachstumszeit und für das starke Gedeihen ausgerechnet in den Nachtstunden zu finden. Dafür waren die zusätzliche Auswertung äußerer Faktoren wie Temperatur und Feuchtigkeit der Luft sowie des Wassergehalts des Bodens unabdingbar. „Die größte Überraschung für uns war", so Dr. Roman Zweifel, „dass die Bäume sogar in mäßig trockenen Böden wuchsen, sofern die Luft ausreichend feucht war. Umgekehrt blieb das Wachstum sehr gering, obwohl der Boden feucht, zeitgleich die Luft aber trocken war." Was für die Forscher die logische Schlussfolgerung ergab, dass eine ausreichend große Luftfeuchtigkeit der maßgebliche Faktor für das Baumwachstum sein musste. Während bislang in der Biowissenschaft eine möglichst stark ausgeprägte Fotosynthese und ein hoher Bodenwassergehalt als ausschlaggebend angesehen wurden.
Wichtig für Beurteilung des Klimawandels
Da die Luftfeuchtigkeit in der Nacht generell höher ist als am Tag, haben die Pflanzen laut den Wissenschaftlern ihr Wachstum in die dunklen Stunden verlegt. Zusätzlich sei zu berücksichtigen, dass die Blätter oder Nadeln der Bäume an sonnigen Tagen mit trockener Luft mehr Wasser durch Transpiration verlieren, als sie durch ihre Wurzeln aus dem Boden zum Ausgleich aufnehmen können. Dadurch gerieten die Pflanzen in eine Art von Wasserstress, was sich im Sinken der Saugspannung im Baum sowie zu einem durch das Wasserdefizit ausgelösten Unterdruck in den Zellen bemerkbar mache und letztlich zu einem Wachstumsstopp führe, ganz unabhängig von der Verfügbarkeit von Kohlehydraten. Was für den Baum aber kein größeres Problem darstelle. „Es gibt für den Baum keinen Grund", so Dr. Roman Zweifel, „am Tag wachsen zu müssen." Er begründet das damit, dass die Pflanzen tagsüber ohnehin ein paar Stunden benötigten, um die durch die Fotosynthese in Blättern oder Nadeln produzierten Nährstoffe nach unten in den Stamm zu transportieren. Dort stünden sie dann rechtzeitig in den kühleren und feuchteren Nachtstunden für das Wachstum zur Verfügung. „Das ist ein gutes System", so Roman Zweifel. Wobei die Gehölze laut den Wissenschaftlern deutlich sensibler auf zu trockene Luft als auf einen mangelnden Nährstoff-Nachschub reagieren. „Mit anderen Worten", so Dr. Roman Zweifel, „Bäume hören auf zu wachsen, bevor die Fotosynthese gehemmt wird." Was auch erklären kann, warum Bäume in trockenen Umgebungen zwar noch Kohlehydrate speichern, aber nicht mehr wachsen können oder warum die Pflanzen in der heißesten und trockensten Zeit des Tages oder Jahres mit trockener Luft am wenigsten wachsen können.
Unter niedriger Luftfeuchtigkeit leidet das Wachstum aller sieben untersuchten Baumarten, was künftig bei der Auswahl geeigneter Baumarten für trockener und wärmer werdende Standorte unbedingt berücksichtigt werden sollte. Ein geringer Bodenwassergehalt wiederum macht beispielsweise der Steineiche kaum etwas aus. „Kohlenstoffgewinn (Fotosynthese während des Tages) und Kohlenstoffverbrauch (Wachstum während der Nacht) finden zu anderen Tageszeiten statt", so die Forscher in ihrem Studien-Resümee, „daher reagieren diese zwei Prozesse auch unterschiedlich auf die dann herrschenden Witterungsbedingungen. Bisher verwendete Klima-Waldentwicklungsmodelle hingegen beruhen nur auf dem Wissen aus hauptsächlich Jahresmittelwerten des Wachstums, gehen also auf die tageszeitlich unterschiedlich vorkommenden Prozesse nicht ein. Diese Erkenntnisse könnten die Art und Weise verändern, wie die Auswirkungen des Klimawandels auf Wälder zu beurteilen sind."