In Boulogne-sur-Mer in Nordfrankreich liegt Europas größtes Meeresaquarium, Nausicaá. Beim aktuell vom Aussterben bedrohten Fischbestand ist es nicht nur eine der wichtigsten touristischen Attraktionen der Region, sondern auch wichtiger Akteur beim Artenschutz.

La Plage – der „Strand" – so nennen die Mitarbeiter von Nausicaá scherzhaft die oberste Ebene des weißen, einem großen Rochen nachempfundenen Gebäudes. Denn hier blickt man auf die Oberfläche des gewaltigen Wasserbeckens, das „Bassin de la haute mer". 60 Meter ist es lang, acht Meter tief und umfasst ein Volumen von rund zehn Millionen Litern Wasser, in denen 40 verschiedene Arten zu Hause sind, darunter verschiedene Haie, Rochen und ein riesiger Manta. Um dafür zu sorgen, dass all diese unterschiedlichen Tiere, die in der Natur teilweise Fressfeinde sind, hier nebeneinander optimale Bedingungen finden, gibt es auf der „Strand-Ebene" eine Vielzahl von Messgeräten, aber auch Laufstege, die auf das Becken hinausführen.
Ausgeklügelte Fütterung
Man habe im Laufe der Jahre ein ausgeklügeltes Füttermanagement entwickelt, sagt Aquariologe Dominique Mallevoy. So bekommen die verschiedenen Spezies ihr Futter zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Orten – und kommen sich nicht gegenseitig „in die Quere". Damit auch der Speiseplan stimmt, ist an einer großen Tafel in der „Küche" gleich nebenan aufgelistet, was die einzelnen Tiere an Nahrung täglich oder an bestimmten Tagen der Woche bekommen. So verdrückt der mehrere Meter lange Manta allein elf Kilogramm Krustentiere und Krill täglich (!) – wie gut, dass Nausicaá als wichtige Touristenattraktion im nordfranzösischen Boulogne-sur-Mer mit den einheimischen Fischern und Fischverarbeitungsfirmen kooperiert. Und dass all das, was dort nicht in den Verkauf geht, an das Meeresaquarium geliefert wird und hier erst einmal in den gewaltigen Tiefkühlschränken landet.

Doch die Vorbereitung der Nahrung für so viele unterschiedliche Fische und Meerestiere – insgesamt gibt es in Nausicaá rund 1.600 Arten, von den Haien über die Schildkröten und Seelöwen bis hin zu Seepferdchen – ist nicht die einzige Aufgabe der sogenannten „Soigneurs", der Trainer. Fast alle hätten auch eine Tauchausbildung absolviert, erzählt Dominique Mallevoy bei einem Rundgang um das Ozeanbecken. Denn es gebe nicht nur eine ganze Reihe von Reinigungs- und Instandsetzungsarbeiten, die man nur per Tauchgang erledigen könne; mitunter müsse man sich um verletzte oder kranke Tiere kümmern, diese isolieren, um sie in einem speziellen „Krankenbecken" wieder aufzupäppeln. Auf der oberen Ebene des Aquariumsgebäudes befindet sich nicht nur der Zugang zum Ozeanbecken, dort sind auch eine ganze Reihe kleinerer Becken oder Tanks untergebracht, die zur Aufzucht verschiedenster Meeresbewohner genutzt werden. Zwar ist und bleibt das 1991 eröffnete Nausicaá in erster Linie Besucherattraktion – in „Nicht-Pandemie-Zeiten" kommen jährlich Hunderttausende Gäste. Doch genauso definiert sich das Meeresaquarium auch als Forschungsort, der eng mit anderen Einrichtungen zusammenarbeitet – etwa Uni-Institute, Zoos und Aquarien sowie eine ganze Reihe von Non-Profit-Organisationen. Insbesondere gehe es um den Artenschutz, erklärt Aquariologe Mallevoy.
Für nachhaltige Fischerei

Er deutet auf einen der gut eineinhalb Meter hohen Tanks in Tonnenform. Orange-perlmuttfarben gestreifte Fische schwimmen darin, die durch ihre spitz zulaufenden Schnauzen auffallen. So sei auch ihr Name „Poisson sanglier", also Wildschweinfisch, zu erklären, schmunzelt Dominique Mallevoy. Die Exemplare im Tank seien noch als Eier aus dem Aquarium von La Rochelle gekommen, wurden hier großgezogen. Später einmal sollen sie Bewohner des Ozeanbeckens von Nausicaá werden. Bei anderen Arten sei das Ziel, ihren in der Natur zurückgegangenen Bestand durch Zucht im Aquarium wieder aufzustocken. Zu diesen Arten gehört unter anderem der Gitarren-Rochen, den es früher häufiger im Mittelmeer gab, der dort aber nur noch sehr selten vorkommt. Seit 2009 konnten im Meeresaquarium Nausicaá rund 50 dieser Fische aufgezogen werden, ein kleiner Erfolg angesichts der weiter sinkenden Bestände in der Natur. Ähnlich sieht es beim Zebrahai aus, der in freier Wildbahn bis zu 3,5 Meter lang werden kann, in Küstengewässern Afrikas, rund um den Indischen Ozean und in Asien beheimatet ist. Und der von der Weltnaturschutzorganisation IUCN auf der Liste der bedrohten Arten geführt wird. 2020 bekam das im Ozeanbecken von Nausicaá lebende Paar erstmals Nachwuchs, im vergangenen Jahr nochmals. Ein erster kleiner Erfolg, um den Bestand der Art erst einmal in „geschützten Einrichtungen" so weit aufzustocken, dass ein Aussetzen einiger Exemplare in den natürlichen Lebensraum möglich ist. Für eine Erholung der Gesamtbestände in Aquarien zu sorgen, sei das eine, betont Aquariologe Mallevoy. Andererseits müsse man auch dafür sorgen, dass die Bedingungen in der Natur einen Weiterbestand begünstigten. So gehe es auch darum, mit Regierungen und Organisationen in den jeweiligen Regionen beispielsweise über nachhaltige Fischerei zu verhandeln oder Initiativen für den Umweltschutz anzuschieben.

Überfischung, Bebauung von Küstenregionen und Umweltschäden sind nämlich unter anderem die Gründe, weshalb eine andere von Nausicaá betreute Art in ihrem Bestand bedroht ist. Die Zahl der Kappinguine in Südafrika ist in den vergangenen Jahren enorm zurückgegangen, unter anderem auch, weil viele Küstengewässer zum Beispiel bei Port Elizabeth durch Offshore-Erdöl-Verladung stark verschmutzt wurden. Die Non-Profit-Organisation „Sanccob" betreibt eine Aufzuchtstation an der Westküste Südafrikas, wird von Nausicaá finanziell, personell und durch Know-how bei der Betreuung von frisch geschlüpften Pinguinen unterstützt. Wie die „Manchots du Cap" – so der französische Name – am besten gefüttert werden, für welche Krankheiten oder Parasiten sie anfällig sein könnten, das lernen die Tierpfleger von Nausicaá bei ihrem täglichen Umgang mit der „hauseigenen Pinguinkolonie. Die gehört zu den Highlights eines jeden Besuchs, und in dem Becken mit nachgebauter Felsenküste kamen seit 2009 über 20 kleine Pinguine zur Welt. Man hofft, dass sich ihre Zahl von Jahr zu Jahr steigert – sodass in Aquarien großgezogene Tiere irgendwann einmal ausgewildert werden und dafür sorgen, dass sich der Bestand in der Wildbahn erholt.
Hauseigene Pinguin-Kolonie

Ein ehrgeiziges Ziel, dem man sich nur in kleinen Schritten nähert, darin sind sich Aquariologen und die Mitarbeiter von Naturschutzorganisationen einig. Hoffnung macht die Vielzahl der Initiativen – in der Association of Zoos and Aquariums (AZA) beispielsweise sind weltweit Einrichtungen zusammengeschlossen, die sich unter anderem gegenseitig bei Artenschutzprogrammen unterstützen, auch Spenden dafür sammeln und sich gegen den Handel mit Wildtieren einsetzen. Auch große Player der Entertainment-Branche haben eigene Initiativen zum Schutz bedrohter Tierarten – „Sea World" in Orlando, Florida, beispielsweise betreibt eines von fünf Rettungszentren für Manatees. Immer wieder werden die in Küstengewässern und warmen Kanälen lebenden Tiere durch Schiffsschrauben verletzt oder drohen zu verhungern, weil Gewässerverschmutzung, vor allem eingeleiteter Dünger, ihre Hauptnahrung Seegras zerstört. „Sea World" hat in den vergangenen Jahren Dutzende Tiere aufgenommen, gesund gepflegt und aufgepäppelt. Man arbeitet teilweise mit ungewöhnlichen Methoden, um Tiere beispielsweise zu Partnerorganisationen zum weiteren Verbleib zu transportieren. So wurden neulich vier junge Manatees in extra dafür gefertigten Containern in den Zoo von Columbus, Ohio, geflogen.
Bis zu 60 Prozent der Fischbestände sind derzeit vom Klimawandel bedroht. Umso wichtiger, dass Aquarien wie das Nausicaá darum bemüht sind, die Meeresbewohner vor dem Aussterben zu bewahren.