Der Politikexperte Daniel Dettling über Pandemiemüdigkeit, Fehler in der Krisenkommunikation – und warum Vertrauen zwischen Politik und Bürgern der bessere Weg gewesen wäre.
Herr Dettling, die Bundesregierung hat eine neue Impfkampagne für 60 Millionen Euro lanciert. Wie finden Sie die Kampagne? Bringt die was?
Für das Geld ist sie erstaunlich wenig sichtbar. Sie ist eine Top-down-Kampagne wie schon die erste: zentral von oben gesteuert und auf das Volk herabgeregnet. Damit erreicht man nicht die Leute, die man erreichen soll und will. Wir wissen aus Studien, dass ungefähr 20 bis 25 Prozent der Menschen in Deutschland politisch kaum oder nicht erreichbar sind. Die haben abgeschlossen und sagen: Die da oben machen, was sie wollen. Solche Menschen kriegen Sie nicht mehr mit herkömmlichen Mitteln der Werbung. Die erreicht man nur durch sogenannte Micro-Influencer, sprich kommunal vor Ort, lokal, über Freunde, Netzwerke, Peer-Groups und Communities. Das können Imame, Youtuber oder unterschiedlichste Typen sein, die wir gar nicht kennen. Es ist ein bisschen aufwendiger, eine solche Kampagne zu steuern, da es neu ist und wir damit wenig Erfahrungen haben. Die Bundespolitik ist hier skeptisch, weil sie zum Teil – auch zu Recht – Angst hat, die Deutungshoheit zu verlieren in einer solchen eher dezentralen communitybasierten Kampagne.
Dennoch wäre das aus Ihrer Sicht sinnvoller?
Ja. Sonst erreicht man die Leute nicht, die man erreichen will. Die bewegen sich in Telegram und anderen sozialen Medien. Es braucht andere Methoden, vielleicht auch ein anderes Vertrauensverhältnis zwischen Politik und Bürgern. Der Sozialgerichtspräsident hat vor einigen Tagen vorgeschlagen, dass man Ungeimpfte, die an Corona erkrankt sind und deswegen intensiv behandelt werden müssen, auch an den Kosten beteiligen soll. Die Kosten für eine zehntägige Intensivbehandlung eines Corona-Patienten liegen bei 30.000 bis 200.000 Euro. Das ist schon eine Summe, wenn man einen Teil davon selbst tragen muss. Eine finanzielle Kostenbeteiligung wäre sinnvoller, als die Leute zur Impfung zu peitschen. Die Deutschen reagieren vor allem auf finanzielle Anreize. Der Steuerspartrieb ist in Deutschland, so wird gesagt, stärker ausgeprägt als der Fortpflanzungstrieb.
Seit zwei Jahren heißt es, die Menschen sollen solidarisch sein. Aber ist „Solidarität" nicht ein leerer Begriff, den man erst einmal mit Inhalt füllen und genauer definieren sollte?
Unter Solidarität versteht jeder etwas eigenes. In einer individualisierten Gesellschaft gibt es kein gemeinschaftliches Verständnis von Solidarität. Das kann ein Staat schwer einfordern. Er kann aber sagen: „Wenn du schon dich selbst gefährdest, dann beteiligen wir dich an den Kosten." Bei einer Risikolebensversicherung beispielsweise zahlen Sie doch auch höhere Prämien. Wenn Sie sich nicht impfen lassen gegen Masern, Hepatitis oder Corona, müssen Sie sich eben beteiligen, aber auf individueller Ebene. Auf kollektiver Ebene ist das schwierig, da kommen wir in gefährliche Diskussionen, und die sollten wir tunlichst vermeiden. Diese Spaltung in Geimpfte und Ungeimpfte erreicht eine Metaebene, die völlig unverhältnismäßig ist. Mit der Folge, dass die Gruppe der Ungeimpften zumacht und nicht mehr erreichbar ist, eine Trotzhaltung einnimmt und alles ideologisch überfrachtet. Länder wie Schweden, Norwegen und Dänemark zeigen, dass eine etwas gelassenere Diskussion effektiver sein kann. Dort gibt der Staat Empfehlungen ab und vertraut darauf, dass die Leute ihnen folgen. Dort wird vor allem versucht, die vulnerablen Gruppen zu schützen. Die Politik vertraut dort den Bürgern. Umgekehrt vertrauen die Bürger Politik und Wissenschaft. Die skandinavischen Länder, das wissen wir aus Studien schon vor Corona, sind sogenannte Vertrauensgesellschaften. Das ist bei uns nicht der Fall. Wir sind eher eine Misstrauensgesellschaft. Das macht es wesentlich schwieriger. Man hätte von vornherein mehr auf Eigenverantwortung, Gelassenheit und Selbststeuerung setzen sollen. Und wesentlich kommunaler, dezentraler, individueller und damit schneller auf die Leute zugehen sollen.
Wird eine Misstrauensgesellschaft nicht auch befördert durch ständig neue, sich teils widersprechende Verordnungen? Der Virologe Christian Drosten etwa sagte noch am Anfang der Pandemie, dass Masken nichts brächten. Trotzdem gab es eine Maskenpflicht: Zuerst konnten es monatelang Stoffmasken sein, dann mussten es OP- und später auf einmal FFP2-Masken sein. Danach reichten in Berlin wieder OP-Masken aus, bevor erneut FFP2-Masken angeordnet wurden.
Man hatte anfangs keine Masken und dann gesagt: Die nützen nichts. Nach dem Motto: Wir können jetzt keine Empfehlung zum Maskentragen geben, weil Masken fehlten. Das war verheerend, weil man ja auch sagen hätte können: Versucht euch selbst zu helfen – etwa nach dem Motto „Deutschland häkelt oder bastelt sich eine Maske". Es gab viel Kreativität, Fantasie und auch Bereitschaft in der Bevölkerung, sich selbst zu helfen. Wir müssen stärker auf die Eigenverantwortung und auf die Kreativität der Akteure der Kommunen setzen. Es gab interessante Modelle, wie in Tübingen, Rostock, Bremen und so weiter. Es waren immer die Kommunen, die am Ende erfolgreich waren.
Wie achtsam war man bei der Wortwahl? Es gab auf beiden Seiten viele stereotype Labels wie Corona-Nazis, Coronaleugner oder Coronaverharmloser.
Ja, man war schnell bei Begriffen wie Leugner oder Verharmloser. Das hat man bereits in der ersten Welle gemerkt, wenn Eltern gefragt haben, warum man die Schulen nicht aufmacht, obwohl Kinder diejenigen sind, die am wenigsten gefährdet sind und am meisten unter den Beschränkungen leiden. Kinder- und Jugendärzte haben sehr früh gewarnt und gegen die Schulschließungen argumentiert. Die sind aber nicht durchgedrungen, weil man immer die Gruppen gegeneinander ausspielt: Die Alten gegen die Jungen, die Ungeimpften gegen die Geimpften. Das ist verheerend. Das erklärt jetzt auch den Verdruss und die Wahlergebnisse. Die Erstwähler haben mehrheitlich FDP und Grüne gewählt und nicht die beiden Volksparteien, die für die ältere Generation stehen. Politische Kommunikation 2.0 setzt stärker auf Bürgerdialoge und Bürgerforen. Bürger sind kreativer, als Wissenschaftler und Politiker glauben. Man hat den falschen Eindruck vermittelt nach dem Motto: Wir kümmern uns, ihr müsst gar nichts mehr tun und nur noch unsere Verordnungen lesen und befolgen, die ja zunehmend widersprüchlicher wurden. Hätte man von Anfang an auf die Bürger selbst gesetzt, dann wäre der zunehmende Verdruss, der jetzt auch in allen Studien und Umfragen nachzulesen ist, zum Teil vermeidbar gewesen.
Wie geht man jetzt, nach fast zwei Jahren, mit der Pandemiemüdigkeit um?
Wir sind alle Gefangene unserer Hilfs- und Ratlosigkeit geworden. Von den Bürgern angefangen bis zur Politik. Das eigene Scheitern einzugestehen, damit tun sich Politik und Wissenschaft eher schwer. Wir brauchen eine fehlerfreundliche Politik und Wissenschaft, weil wir nur durch Fehler und Irrtümer lernen. Es gibt verschiedene Wege raus aus der Pandemie, nicht nur den einen Weg.