Die Pandemie offenbart viele Gesichter. Nicht nur medizinisch, auch im Umgang mit Personen des öffentlichen Lebens. Häufig wird mit zweierlei Maß gemessen. Politikern verzeiht man recht schnell politische Fehleinschätzungen, die bei Berücksichtigung faktenbasierter wissenschaftlicher Erkenntnisse vermeidbar gewesen wären. Selbst in seriösen Nachrichtensendungen wird kaum nachgefasst, wenn Fragen klammheimlich übergangen und durch Allgemeinplätze ersetzt werden.
Gänzlich anders ist die öffentliche und veröffentlichte Meinung bei ungeimpften Sportstars. Erinnern wir uns an Novak Djokovic, den weltbesten Tennisspieler, oder Joshua Kimmich, einen der besten Fußballspieler dieses Landes. Der eine wurde wegen fehlender Impfung zur Ausreise gezwungen und durfte seinen Titel bei den Australian Open nicht verteidigen. Der andere musste Spießrutenlaufen, weil ihm die vorliegenden Daten noch nicht ausreichten, um sich gegen Corona impfen zu lassen.
Bashing all überall. Es gibt wohl kein besseres eingedeutschtes Wort, um die jeweilige Situation zu beschreiben. Der zuständige australische Minister brauchte mehrere Tage zum Nachdenken, um sein Urteil zu fällen. Der „Volksfeind" Djokovic verharrte während dieser Zeit in Abschiebehaft. Im Sportteil der Medien – und nicht nur dort – war es das Thema Nummer eins. Kimmich hatte überdies noch das Pech, sich mit Corona mit nachfolgender längerer Pause zu infizieren.
An dieser Stelle ist eine Zäsur notwendig, damit kein falscher Eindruck entsteht. Aus medizinischer und wissenschaftlicher Sicht gibt es keinen Grund, beide Sportler in ihrer Meinung zu unterstützen. Das Risiko einer Corona-Impfung ist um ein Mehr- bis Vielfaches geringer als die möglichen Schäden durch eine Erkrankung. Die insbesondere von Sportlern gefürchtete Myokarditis, also Herzmuskelentzündung, als Folge der Impfung ist extrem selten und nach bisherigem Kenntnisstand leichterer Natur.
Die in der Öffentlichkeit diskutierten möglichen Langzeitfolgen nach einer Impfung sind aus wissenschaftlicher Sicht gegenstandslos. Davon zu unterscheiden sind unmittelbare, meist harmlose Nebenwirkungen oder sehr seltene krankhafte Veränderungen in den ersten Wochen nach einer Impfung. Hingegen besteht bei Erkrankten das Risiko von Long Covid, was insbesondere für Sportler ein ernsthaftes Problem darstellt. Die Fakten sind eindeutig, der Nutzen einer Coronaimpfung überwiegt bei weitem deren Risiko.
Dennoch halte ich die teilweise feindseligen Reaktionen gegenüber ungeimpften Sportlern für unverhältnismäßig. Man darf von ihnen eine Vorbildfunktion einfordern, aber sie nicht überfordern. Wo und wann mutiert der Maßstab zur Maßlosigkeit?
Auch Spitzensportler sind Individuen, denen eine individuelle Entscheidung eingeräumt werden darf, ohne sie in die Querdenkerszene auszugrenzen. Spitzenathleten sind eine besondere „Spezies". Sie beobachten akribisch ihren Körper, hören hinein und entwickeln ein extremes Körpergefühl. Jeder Eingriff von außen, und sei es nur eine Impfung, wird hinterfragt. Unpässlichkeiten werden oft anders wahrgenommen und verarbeitet als bei Normalpersonen. Selbst wissenschaftliche Expertise schafft es nicht immer, die Vorstellung zu eliminieren, eine Impfung könnte das subtile Gleichgewicht des eigenen Körpers stören.
Ich erinnere mich an einen Athleten, Medaillenkandidat bei Olympischen Spielen, dem ich im damaligen Olympia-Jahr eine Impfung empfohlen hatte. Er fühlte sich noch Wochen danach „anders" als vorher, obwohl klinisch, laborchemisch und leistungsdiagnostisch keine Auffälligkeiten objektivierbar waren. Otto Normalverbraucher wäre zur Tagesordnung übergegangen. Was sagt uns das? Auch Spitzenathleten haben ein Recht auf individuelle Entscheidungen und sollten nicht vorschnell als unsolidarisch und egoistisch ausgegrenzt werden. Verurteile niemanden, ohne in seinen Schuhen gelaufen zu sein!