Das Tanzfestival Saar 2022 bringt mit erweitertem Programm von 11. bis 19. März zeitgenössischen Tanz internationaler Ensembles ins Saarland.
Alle zwei Jahre, seit 2014, dem Amtsantritt von Ballettchef Stijn Celis, ist am Saarländischen Staatstheater Festivalzeit. Im März ist es wieder so weit. Doch diesmal, sagt Kompaniemanager Klaus Kieser nicht ohne Stolz, dauert das Defilee erstrangiger nationaler und internationaler Gastspiele sogar neun Tage. Getanzt wird nicht nur im gastgebenden Haus, sondern auch an und in anderen Orten, um dem Festival mehr Breitenwirkung zu verleihen. Die haben sie auch verdient, jene zehn Produktionen, mit denen sich vorstellt, was an Compagnien und Choreografen derzeit in der europäischen Szene von sich reden macht.
Eröffnet wird das Festival mit einem so mutigen wie spannenden Experiment. Das Saarländische Staatsballett, Dance Theatre Heidelberg, das Ballett des Theaters Trier und DANCE Bielefeld haben in kleiner Besetzung jeweils eine Version von Antonio Vivaldis Zyklus „Die vier Jahreszeiten", original oder in der Bearbeitung des Briten Max Richter, einstudiert, doch keiner der Choreografen Stijn Celis, Iván Pérez, Roberto Scafati und Simone Sandroni mit seiner eigenen Compagnie. Zu welchen reizvollen Sichtweisen das führt, erhebt gleich den Premierenabend „4 X 4" des Festivals zu einem Höhepunkt mit Überraschungsfaktor. Tags darauf stellt sich das Choreografenduo Guy Nader und Maria Campos aus Barcelona mit „Set of Sets" von 2018 vor. Sieben Tänzer thematisieren in schier unendlichem, fast süffigem Fluss zu live gespielter Musik kreisende Bewegung, die auch Zuwürfe von Körpern, Hebeaktionen und Drehungen einbezieht.
Eröffnung mit Vivaldi-Zyklus
International geht es weiter. „Résister" nennen Tarek Aït Meddour und seine 2016 gegründete Gruppe Colégram ihr einstündiges Stück für sieben unisex in Kleider gehüllte Tänzer, die beredt zeigen, wie durch Liebe und Miteinander aus Widerstand am Ende, untermalt von sanftem Cello-Klang, menschliche Harmonie wird. Ebenfalls aus Frankreich kommt die Compagnie Accrorap, die als deutsche Erstaufführung „Les Autres" im Gepäck hat. Geleitet wird die Gruppe mit Kader Attou von einem der interessantesten Choreografen des Landes. In seinen Stücken verknüpft er zeitgenössischen Tanz und Hip-Hop zu einer vitalen Synthese mit konkreter Aussage. Die Verbindung zwischen Fremdem und Vertrautem ist Gegenstand von „Les Autres", mit dem Accrorap aus dem CCN von La Rochelle, einem der nationalen choreografischen Zentren Frankreichs, anreist. Aus virtuosen Elementen des Hip-Hop und organischem Tanz kreiert Attou zu live gespielter Musik, so dem per Fingerstreichen erzeugten Singsang wassergefüllter Weingläser, mitreißendes Theater. Ein Rhönrad gerät zum einbezogenen Requisit, Säulen werden bestiegen, zwei Interpreten mit Lampenschirmen überm Kopf leuchten auf; schwarz Maskierte hingegen stehen für das einbrechende Fremde. Wie Attou und seine exzellente Équipe mit engem Körperkontakt das Thema bewältigen, dürfte einer der Glanzpunkte des Festivals sein.
Hip-Hop steht am selben Abend auch im Kulturforum Illingen auf dem Programm. Dort gehen Nils „Storm" Robitzky und seine Company Renegade „Back to the Roots". Heißt, sie besinnen sich auf die Wurzeln jenes einstigen Protesttanzes Jugendlicher, wie er während der 1980er auf Straßen und Plätzen stattfand. Ein überdimensionaler Ghettoblaster auf bemaltem Grund bildet das Bühnenbild, vor dem sechs famose Performer ihre akrobatischen Moves zelebrieren.
Beeindruckend, indes teils aggressiver agiert das Tänzersextett der Cooperativa Maura Morales aus Düsseldorf. In „Präludium der Kälte" beklagt die kubanische Choreografin Maura Morales die Erkaltung des menschlichen Körpers durch Machtausübung von außen. Starke Bilder entstehen, wenn die Tänzer in weißer Unterwäsche und Oberteilen aus Plastikfolie zwischen Formstrenge und Aufbegehren changieren, Isolation zu durchbrechen suchen.
Den Schlusspunkt unter das Festival setzt das Ballett am Rhein mit einem gerade zur Premiere gebrachten Zweiteiler, der kühn Geschichte und Gegenwart verknüpft. „I am a Problem" beginnt mit der legendären „Carmen", die der französische Starchoreograf Roland Petit 1949 für sich und seine Frau Zizie Jeanmaire geschaffen hat, ein elegantes Revueballett um jene aufbegehrende spanische Zigarettenarbeiterin. Düsseldorfs Ballettdirektor Demis Volpi hat für den zweiten Teil eine weltweit umworbene kanadische Tanzschöpferin eingeladen. Aszure Barton orientiert sich bei „Baal" an Bertolt Brechts gleichnamigem, 1923 in Leipzig uraufgeführtem Stück um einen so rüpelhaften wie skrupellosen jungen Dichter, dessen Ungebärdigkeit sich anders und dennoch ähnlich wie bei Carmen äußert. Das letztliche Urteil fällt jeder Zuschauer für sich.
Neun spannende Festivaltage
Zum Festival gehören noch weitere Aufführungen. Im März 2021 erlebte am Saarländischen Staatstheater „Future World" seine Premiere, bestehend aus Stijn Celis’ „Clara" als Figur aus E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann" und Richard Siegals vielschichtiger Kreation „Liedgut". Wenige Tage danach verhinderte die Schließphase weitere Vorstellungen. Nun kehrt „Future World" auf die Bühne zurück, erweitert um „Whiteout", ein Stück, das Marco Goecke 2008 für Les Ballets de Monte-Carlo entworfen hatte. Das Verbindende: alle drei Arbeiten umkreisen die Frage, wie man die Kunstgattung Ballett mit ergänzter Formen- und Bewegungssprache in die Zukunft führen kann. Auch das Jugendensemble iMove beteiligt sich an der tänzerischen Diskussion: In der Collage „InnerMOVEments" gibt iMove individuell oder global erlebten Gefühlen wie Liebe, Trauer und Wut bewegte Gestalt. Mitmachen können dann alle Altersstufen in „Le Sacre du printemps", wenn Roger Bernat den Tanzwilligen für Igor Stravinskys einst skandalträchtige Avantgarde-Komposition Ohrhörer überstülpt und mit ihnen Passagen aus Pina Bauschs Maßstäbe setzender Choreografie von 1975 einstudiert. So kann sich an diesen neun Festivaltagen jeder aussuchen, was ihm zusagt: sich „nur" seelisch bewegen zu lassen oder sich physisch auch selbst zu bewegen. Kein übler Ansatz für die 2022er Ausgabe des Tanzfestivals Saar!