Ruhullah Gürler macht einen Schritt zurück, um in Zukunft wieder zwei nach vorn machen zu können. Leistungssport, Beruf und eine schlimme Corona-Erfahrung machen dem 25-jährigen Bundesliga-Ringer zu sehr zu schaffen.
Nach vier Jahren bei Bundesligist ASV 88 Mainz kehrt Ringer Ruhullah Gürler (Griechisch-Römisch bis 75 Kilo) als deutscher Vize-Mannschaftsmeister ins Saarland zurück. Genauer gesagt zu Zweitligist AC Siegfried Heusweiler. Nachdem sich Gürler in seinem Halbfinal-Kampf gegen Kakhaber Khubetzhty vom ASV Schorndorf das Innenband im Knie gerissen hatte, fehlte er im Finale, das Mainz nach einem 12:12 im Hinkampf durch die 11:18-Niederlage im Rückkampf gegen den SV Wacker Burghausen verloren hatte. Nach einer für ihn sehr anstrengenden Zeit in der Corona-Pandemie möchte der 25-Jährige aber einen Gang zurückschalten. „Auch wenn keiner meine Entscheidung, in der Blüte meiner Leistungsfähigkeit in die Zweite Liga zu wechseln, nachvollziehen kann", erzählt er: „Die Zweite Liga ist für mich einfach chilliger."
Was sich zunächst wie ein lockerer Spruch liest, offenbart auf den zweiten Blick mehr Tiefe: „Ich will zumindest für ein Jahr kürzertreten. Die vergangenen Jahre waren einfach zu stressig", erklärt Gürler, der in Völklingen-Wehrden wohnt, an der Hermann-Neuberger-Sportschule in Saarbrücken trainiert und zu jedem Kampf anreisen musste – also auch zu den „Heimkämpfen".
Und das als Industriemechaniker-Azubi, der schon sein Bauingenieurswesen-Studium auch aus zeitlichen Gründen abgebrochen hatte. „Wenn man sich jede Woche zusätzlich zum Arbeitsalltag spätestens ab Mittwoch den Kopf zerbricht, wie man bis zum Kampf am Wochenende das Gewicht runterbekommt und nie weiß, auf welchen Gegner man trifft, dann wird das irgendwann zu viel", gibt er außerdem zu. Seine Erfahrung in der Corona-Pandemie habe letztlich „das Fass zum Überlaufen gebracht."
14 Monate Zwangspause lagen hinter Ruhullah Gürler, als er im Dezember 2021 endlich sein Comeback auf der Matte feiern durfte. Davor war er zweimal an Covid-19 erkrankt. Vor allem beim ersten Mal hat ihn das stark gebeutelt. Die Erkrankung kam zunächst wie eine starke Erkältung daher – aber dann kam Long Covid. Nach zwei Wochen in Quarantäne fühlte er sich gut und wollte eine Runde joggen. „Nach zwei Minuten musste ich abbrechen, weil ich keine Luft mehr bekam", schildert Gürler seine Erfahrung, „Ich habe deshalb erst mal locker gemacht, aber auch später kam ich sehr schnell an meine Belastungsgrenze." Er ließ sich medizinisch untersuchen, musste in dieser Zeit jede Woche zum Arzt. „Das war für mich ganz schlimm", erinnert er sich und fügt hinzu: „Im August musste ich dann sogar stationär ins Krankenhaus, weil ich beim Training plötzlich ein Stechen in der Brust spürte. Ich bekam nicht mehr richtig Luft und konnte mich auch nicht mehr richtig bewegen. Das war für mich natürlich erst mal ein Schock." Zwei Tage lang wurde er durchgecheckt, dann die Entwarnung: Es handelte sich nicht um einen Herzinfarkt, sondern um eine Verklemmung im Rücken. „Ich wurde mit der Diagnose Herzmuskelentzündung entlassen", berichtet Gürler und ergänzt: „Aber bei weiteren Untersuchungen von einem Kardiologen und Sportmedizinern hatte sich auch das nicht bestätigt." Eine Herzerkrankung ist definitiv vom Tisch, aber er kommt immer noch in Atemnot, wenn er seine Belastungsgrenze erreicht, ab und an hat er auch mit Konzentrationsproblemen zu kämpfen. „Das ist schon scheiße, aber so, wie es jetzt ist, kann ich damit leben", sagt er und betont, dass er sich an der Landessportschule in guten Händen weiß. Trotzdem bleibt die Erkenntnis: „Corona hat mich in jeglicher Hinsicht, auch psychisch, aus der Bahn geworfen. Ich kann mit Stress nicht mehr so gut umgehen wie früher."
Apropos früher. Das Talent wurde ihm in die Wiege gelegt: Vater Yakup Gürler war Vize-Weltmeister und kam als Ringer nach Deutschland, wo er vier Jahre lang in der Bundesliga aktiv war. Bis zu seinem 17. Lebensjahr spielte Ruhullah Fußball. „Irgendwie hatte mich das Ringen damals noch nicht so gepackt", gibt er rückblickend zu. Ein Schnuppertraining beim KV Riegelsberg änderte das schlagartig. „Ich habe dann im Training von Woche zu Woche Fortschritte gemerkt, vor allem körperlich. Eigentlich war ich immer eher schlaksig – plötzlich hatte ich einen Bizeps und dachte: Was geht jetzt ab?", erinnert er sich und gibt zu: „Das war geil." Angefixt entwickelte er den Willen, immer besser werden zu wollen. Damals waren seine Gedanken Mitte der Woche noch ganz andere: „Ich habe mich ab dienstags auf das Training am Freitag gefreut und wusste: Da geht’s wieder ab." Doch nicht nur die körperliche Optimierung machte für ihn den Reiz der Sportart aus. Vor allem auch das Gemeinschaftsgefühl. Über das Ringen lernte er fast alle seine engen Freunde kennen. „Der Zusammenhalt prägt einen. Manches verstehen nur Ringer: Die Atmosphäre, das Kribbeln vor dem Kampf, wenn man sich noch einmal in seine Ecke zurückzieht …", beschreibt er und sagt: „Das sind Momente, die man nie vergisst und die diese Sportart ausmachen."
Obwohl jeder seinen Kampf auf der Matte alleine kämpfen muss, wird der Teamgedanke im Ringen groß geschrieben: „Wenn man weiß: Drumherum stehen Leute, die mich abfeiern und unterstützen – das gibt Kraft", sagt Gürler, der von seinen Freunden „Ruhu" genannt wird.
Für seinen Heimatverein KV Riegelsberg stand er zuletzt vor sechs Jahren auf der Matte. Es folgte der Wechsel zu Bundesligist KSV Aalen im Alter von 19 Jahren. Mit dem dortigen Vereinstrainer Patric Nuding, inzwischen Bundesstützpunkttrainer in Nürnberg, entstand eine echte Freundschaft. „Er ist immer noch ein wichtiger Mann in meinem Leben", sagt Gürler, der Nuding 2018 nach Mainz folgte. Zwar hatte sein Trainer und Freund den Verein nach nur einer Saison wieder verlassen, doch Gürler blieb. „Mir hat es dort gut gefallen, verschiedene Aspekte haben hier einfach gepasst, zum Beispiel die tolle Atmosphäre mit vielen Zuschauern", sagt er und erzählt weiter: „Ich ringe ja in der 75-Kilo-Klasse und habe oft den letzten Kampf. Wenn es mir dann gelungen ist, das Ergebnis kurz vor Schluss zu drehen und das Publikum rastet aus – das ist schon was Geiles." Auch, wenn die tägliche Arbeit hart war: „Ich weiß nicht genau, wie Fußballer trainieren. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die auch nur im Ansatz so hart trainieren wie Profi-Ringer."
Trotzdem würde er eine Rückkehr in die 1. Bundesliga nicht ausschließen. Genauso wenig wie Starts bei nationalen oder internationalen Einzelwettkämpfen. „Wenn ich wieder Blut geleckt habe, kann das durchaus sein. Ich habe sicher noch ein paar Jahre, in denen ich auf hohem Niveau mithalten kann", findet er und ist sicher: „Ich habe das Zeug dazu, jeden zu schlagen. Es kommt am Ende nur auf die mentale Stärke und die Tagesform an."