Zusammengewürfelt leben in Nordrhein-Westfalen Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und regionaler Identität. Jahrzehntelang von der SPD regiert, schaffte es Armin Laschet 2017 mit der CDU an die Spitze. Kommen die Sozialdemokraten zurück oder wollen die Menschen in unsicheren Zeiten, dass alles bleibt, wie es ist?
Nach zwei Jahren Corona und zwei Monaten Krieg in der Ukraine stehen in Nordrhein-Westfalen, dem mit 18 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Bundesland, Neuwahlen an. Beobachter sprechen von „kleinen Bundestagswahlen", die den Trend im gesamten Bundesgebiet widerspiegeln. Nach neuesten Umfragen rangieren SPD und CDU in der Wählergunst Kopf an Kopf um die 30 Prozent, die Grünen liegen bei 15, die FDP bei acht, die AfD bei sieben Prozent. Demnach wäre eine schwarz-gelbe Koalition, wie sie jetzt in Düsseldorf regiert, nicht mehr möglich. Seitdem im Bund eine Koalition aus SPD, Grünen und FDP regiert („Ampel"), ist diese Option auch für NRW denkbar.
Drei Wochen vor der Wahl am 15. Mai machen allen Parteien die wieder zunehmenden Corona-Infektionen zu schaffen, weil sie mit ihren Mitarbeitern kaum planen und das Publikum sich bei den Wahlkampfauftritten schlecht veranschlagen lässt. Je näher der Termin rückt, desto schwerer ist es einzuschätzen, was die Menschen wirklich bei der Stimmabgabe umtreibt. Ist Corona entscheidend? Der Krieg in der Ukraine? Was kann man tun, außer helfen, spenden, eine gelb-blaue Fahne heraushängen? Oder dominieren doch wieder „normale" Themen wie bezahlbares Wohnen, Schulpolitik und Staus? Ob es überhaupt zu einem Wahlkampf kommt, hat der amtierende Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) in Zweifel gezogen. „Für Wahlkampf war schon angesichts der Pandemie aktuell kein Raum", ließ er seinen Sprecher ausrichten. „Noch weniger Verständnis hätten die Menschen für parteipolitischen Streit, während Krieg in Europa herrscht." Auch sein Kontrahent, Thomas Kutschaty (SPD), von 2010 bis 2017 Justizminister, geht in seinem Wahlkampf-Clip nicht auf Corona und den Ukraine-Krieg ein.
Kein Raum für Wahlkampf
Seit 2017 regiert in Nordrhein-Westfalen eine schwarz-gelbe Koalition aus CDU und FDP. Seit die SPD in den Umfragen leicht vorne liegt, spekulieren die Grünen auf eine Regierungsbeteiligung. NRW ist Braunkohleland, folglich von der Energiewende besonders betroffen. Das gehört zum Kernthema der Grünen, die Transformation der Industrie- und Energiepolitik. Ob sie damit genug Resonanz finden, in einer Zeit, in der die Preise für Energie durch die Decke schießen, ist fraglich: Die Menschen interessiert nicht, wie sauber ihre Energieversorgung in fünf Jahren sein wird, sondern was sie jetzt für Öl und Gas bezahlen müssen. Und reich sind die Menschen an Rhein und Ruhr nicht.
Sie sind eher pragmatisch, denken an die nächste Lohnabrechnung und fliegen im Urlaub nach Mallorca. Vor allem haben sie gelernt, dass nichts bleibt wie es ist. Seit drei Generationen bewegt die Region der Strukturwandel. Ende der 1950er-Jahre müssen die ersten Zechen schießen, weil die heimische Kohle zu teuer wird. In den 1960er- und 1970er-Jahren schrumpft auch die Stahlindustrie. Neue Ansiedlungen wie Opel in Bochum fangen viele Arbeitslose auf, hier wird auch die erste Universität gegründet. Die Landesregierung investiert in Bildung, neue Verkehrswege (Autobahnen) und Kultur. Heute gibt es 14 Unis und 16 Fachhochschulen.
Überlebt hat der Maschinenbau in kleinen und kleinsten Betrieben, wissensbasierte Dienstleistungen wie Ingenieur- und Beratungswesen entstehen. Ford Köln bekam den Zuschlag für den Bau eines zweiten E-Modells, bis 2036 sollen keine Verbrenner mehr gebaut werden. Dafür traf es Opel, das Werk hat 2014 dichtgemacht, angesiedelt haben sich Logistikunternehmen, Autozulieferer, Start-ups zusammen mit der Uni. Die verbliebenen Stahlwerke experimentieren mit Wasserstoff als Energielieferant, der Röhrenbauer Mannesmann ist ins Mobilfunkgeschäft eingestiegen, in Duisburg hat sich der größte Binnenhafen Europas entwickelt (den die chinesische Eisenbahn regelmäßig aesteuert). Bayer Leverkusen allerdings macht sechs Jahre nach der Übernahme des Chemieriesen Monsanto immer noch Verlust. Bertelsmann dagegen ist aus seinem Stammhaus in Gütersloh zum größten Medienunternehmen Europas herangewachsen, und vom WDR lebt mittlerweile ganz Köln. Nach Erhebungen des amerikanischen Wirtschaftsmagazins „Fortune" hatten im Jahr 2019 zehn der 500 umsatzstärksten Unternehmen der Welt ihren Hauptsitz in Nordrhein-Westfalen. Außerdem haben zehn der 30 DAX-Unternehmen ihren Firmensitz in NRW: Deutsche Post und Deutsche Telekom in Bonn, Vonovia in Bochum, Henkel in Düsseldorf, E.ON, RWE und Thyssenkrupp in Essen, Lufthansa in Köln sowie Bayer und Covestro in Leverkusen. Rheinmetall, internationaler Technologie- und Waffenkonzern mit Sitz in Düsseldorf, gehört nicht dazu – das könnte sich aber noch ändern.
Vielfältige Kultur-Region
Zum Pragmatismus der Nordrhein-Westfalen trägt auch bei, dass es im Gegensatz zu anderen deutschen Ländern keinen stark identitätsstiftenden Vorgängerstaat gab. Bei der Staatsgründung 1947 stand auch nicht der Gedanke einer Zusammenführung homogener Gebiete, sondern der Wunsch der britischen Regierung im Vordergrund, das Ruhrgebiet und seine bedeutenden industriellen Ressourcen als Ganzes in ein Land einzubetten. Also schmiedeten sie die katholischen Rheinprovinzen an die streng preußischen Westfalen und die Eifler Bauern an die Handwerker aus dem Bergischen Land. Heute ist die Metropolregion Rhein/Ruhr mit zehn Millionen Einwohnern eine der am stärksten verdichteten Regionen Europas. Eher dünn besiedelt sind das Münsterland, das Tecklenburger Land und Teile Ostwestfalen-Lippes. Lippe ist im Namen untergegangen. Es ist der Name für den Regierungsbezirk Detmold, der mit dem früheren Land Lippe identisch ist.
Von Anfang an war das Land mit seinen Zechen und Kohlegruben ein Einwanderungsland. Jeder Dritte hat einen Migrationshintergrund. Entsprechend sind die Regionen geprägt von den Herkunftskulturen, von Ruhrpolen, Aussiedlern und Spätaussiedlern, Türkeistämmigen und ihren Nachfahren. An den Mannschaftsaufstellungen von Schalke oder Dortmund lässt sich das ablesen: Lewandowski, Kuzzera, Piszczek und Błaszcykowski, Klose und Podolski hießen Stammspieler. Heute muss jeder, der sich für Fußball interessiert, türkische oder afrikanische Namen wie Gündogan, Dis Eycicek, Omer, Süleyman Sané, oder Jean-Manuel Mbom lernen. Nicht vergessen ist Stan Libuda. Als einmal Plakate für eine Kirchenveranstaltung in Gelsenkirchen mit dem Satz warben: „An Gott kommt keiner vorbei" soll ein Fan dazugeschrieben haben: „Außer Stan Libuda."
Wie vielfältig dieses Land ist, kann man auch an den „Tatort"-Kommissaren erkennen: der jähzornige Faber ermittelt in Dortmund, die routiniert-gemütlichen Kommissare Ballauf und Schenk in Köln, die Spaßmacher Thiel und Börne in Münster und Duisburg hatte seinen Schimanski. Bis heute werden die Preußen im rheinischen Karneval in Phantasieuniformen veräppelt, und ein Westfale, ein Düsseldorfer und ein Kölner werden nie zusammen das gleiche Bier trinken, denn Pils, Kölsch und Alt sind nicht nur eine Geschmacks-, sondern auch eine Ansichtssache.