Nach Verzögerungen durch die Pandemie kann der Bundesjugendchor nun an den Start gehen. Leiterin Anne Kohler spricht über das Konzept, die Voraussetzungen für die Aufnahme und die nächsten Projekte.
Frau Kohler, wenn man Bundesjugendchor hört, denkt man spontan an einen Kinderchor. Es sind aber 18- bis 26-Jährige. Womit hat das zu tun; mit dem Stimmbruch, der Mündigkeit oder dem musikalischen Ausbildungsstand?
Mit all dem. Die Entwicklung von Sängern findet später statt als bei einer Geigerin zum Beispiel. Da kann man mit Fünf anfangen, heftig üben und ist mit 14 – wenn man hochbegabt ist – ein Weltstar. Männer haben mit ungefähr 17 den Stimmbruch abgeschlossen, dann ist die Stimme belastbar. Auch bei Frauen gibt es einen Stimmwechsel, der für das kleine Organ beachtlich ist: Die Stimmbänder wachsen von 0,8 Zentimeter auf 1,2 Zentimeter. Bei Männern verdoppelt sich die Länge auf zwei Zentimeter. Man kann während der Zeit zwar singen, aber die differenzierte Ausbildung ist schwierig. Erst nach dem Stimmbruch kann man in diese erwachsenere Rolle des Chorsängers hineingehen.
Das Bundesjugendorchester oder auch das Bundesjugendballett sind bekannte Größen. Warum hat es so lange gedauert, bis ein Bundesjugendchor gegründet wurde?
Es gab einen Vorgänger, den Deutschen Jugendkammerchor. Der Bundesjugendchor ist nun beim Deutschen Musikrat angesiedelt, wo auch das Bundesjugendorchester und das Bundesjazzorchester zu Hause sind. Der Deutsche Musikrat ist auch Veranstalter von „Jugend musiziert" und weiteren Wettbewerben.
Bei vielen Chören geht es ja „nur" um Spaß an der Freude. Was ist das Ziel des Bundesjugendchores, was sollen die Mitglieder erreichen?
Die Teilnehmer sollen eine Chorerfahrung auf sehr hohem, fast professionellem künstlerischen Niveau machen und beim Singen mit unterschiedlichen Stilistiken konfrontiert werden. Es ist etwas anderes, ob ich mich solistisch entfalte oder das Ziel habe, mich mit den Nachbarstimmen perfekt zu mischen. Das erfordert eine hohe Flexibilität der Sänger. Viele der Teilnehmer sind Gesangsstudierende, aber es macht einen Unterschied, ob ich mich mit einer Stimme auf der Opernbühne durchsetzen will oder mich – beispielsweise alte Musik singend – in einen Gesamtklang integriere. Zudem müssen die Sängerinnen komplexe Chorstimmen zeitgenössischer Musik eigenständig lernen. Aber Freude wollen wir natürlich beim Singen auch haben!
Der Bundesjugendchor hat eine Richtgröße von 50 Mitgliedern; im vergangenen Jahr haben Sie 42 online rekrutiert. Wie viele Bewerbungen gab es und woher kamen die?
Im ersten Durchgang waren es 80 bis 100 Bewerber. Ein Drittel davon kommt eine Runde weiter, denn es verbleiben ja auch Sängerinnen und Sänger im Chor. Wir möchten die Fluktuation gering halten und den jungen Leuten fällt es meist auch schwer, die Gemeinschaft wieder zu verlassen. In diesem Jahr, im November, sind circa zehn Plätze zu vergeben. Der Schwerpunkt der Bewerber kommt momentan aus dem Westen Deutschlands. Dabei würde ich mir wünschen, dass mehr SängerInnen aus Dresden, Weimar, Leipzig oder Berlin kommen würden.
Das klingt, als ob Sie die Messlatte sehr hoch legen würden. Im Jahrbuch 2022 des Deutschen Musikrats ist auch von „stimmlich Hochbegabten" die Rede.
Man braucht schon Chorerfahrung. Es ist wichtig, dass man viel gesungen hat, im Knabenchor, einer Kantorei, Domchorschule oder im Schulchor. Uns geht es bei der Auswahl um die stimmliche Schönheit, dynamische Flexibilität und einen einfühlsamen Umgang mit seinem Organ.
Nun ist die musikalische Ausbildung durchaus kostenintensiv. Unterricht, Fahrtkosten, Übernachtungen an Proben- und Auftrittsorten – was kommt auf die jungen Sänger beziehungsweise ihre Familien finanziell zu, wenn sie in den Bundesjugendchor eintreten?
Die Kosten, auch für Notenmaterial und Stimmbildungsunterricht, werden bis auf eine geringe „Schutzgebühr" übernommen. Die Mittel stammen aus dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Man könnte es fast als ein kleines Stipendium bezeichnen.
Als künstlerische Leiterin stellen Sie ein jährliches Konzertprogramm zusammen, das in diesem Jahr um die Beziehung des Menschen zum Wald und zur Natur kreist. Warum gerade dieses Thema?
Weil ich das Gefühl habe, dass wir in unserer täglichen Hektik und Schnelllebigkeit den Boden unter den Füssen und unsere Lebensgrundlage verlieren. In der Natur finden wir unsere Intuition zurück. Der Wald ist ein Ort der Märchen und Mythen, auch der Fabelwesen und des Gruselns. Im Pantheismus steckt Gott in allen Dingen, also auch im Wald. Aber wenn wir heute durch die Wälder fahren und sehen, wie Fichten abgeknickt sind, erleben wir sie auch als Sinnbild der Monokultur und der Ausbeutung.
Musikalisch finden sich im aktuellen Repertoire Werke von Schumann, Mendelssohn-Bartholdy, Strauss, aber auch Ravel.
Ja, aber wenn ich gewusst hätte, was durch den Krieg in der Ukraine auf uns zugekommen ist, hätte mein Programm anders ausgesehen. Ich hoffe, dass der Bundesjugendchor mit dem soeben erschienenen Video „Da Pacem Domine – Gib Frieden, Herr" von Arvo Pärt ein Zeichen setzen kann. Wir haben es im März aufgezeichnet und ich hatte das Gefühl, dass die Sänger es mit einer besonderen Inbrunst vorgetragen haben.
Eine wichtige Rolle spielen auch Kooperationsprojekte mit ausländischen Jugendchören, das wäre dieses Jahr in Polen. Ist das auch eine politische Botschaft?
Auf jeden Fall! Ein Bundesjugendchor ist in einer speziellen Position, um sich für Europa stark zu machen. Für den Beirat und mich war es von wesentlicher Bedeutung, uns Osteuropa zuzuwenden. Wir hoffen, dass der Besuch des polnischen Partnerchores im August möglich sein wird, obwohl das Land hoch beschäftigt ist mit der Aufnahme von Flüchtlingen. Mir ist wichtig, dass junge Menschen überregional Musik machen; tolerant und friedlich miteinander umgehen. Musik ist das beste Mittel gegen Gewalt, oder wie es der Dirigent Leonard Bernstein formulierte: „Das ist unsere Antwort auf Gewalt: Mit größerer Intensität schöner und hingebungsvoller musizieren als je zuvor."