Frankreich braucht Reformen. Darüber diskutiert wird seit fast 30 Jahren. Warum das Land sich damit schwertut, weiß Winfried Veit. Der Frankreich- und Europaexperte kennt das Land seit Langem. Für ihn hat sich der dort herrschende Zentralismus festgefahren.
Herr Dr. Veit, Sie kennen Frankreich seit Ihrer Studentenzeit, haben als Politikwissenschaftler lange in Paris gelebt. Was hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in Frankreich, zwischen Mitterand und Macron, politisch verändert?
Drei Dinge haben sich in dieser Zeitspanne geändert: Erstens können wir einen Niedergang der politischen Kultur konstatieren, der sich in den Persönlichkeiten der Präsidenten manifestiert. Mit François Mitterand besaß Frankreich einen Präsidenten in der Tradition von De Gaulles, ein geachteter Präsident, zu gleichen Teilen volksnah wie genügend distanziert über der Parteipolitik schwebend. Beginnend mit Jacques Chirac, den man auch das „Chamäleon" nannte, begann die Erosion des Ansehens des Präsidentenamtes. In den Keller ging es mit François Hollande und Nicolas Sarkozy. Macron aber begann damit, diese alte Rolle wieder einzunehmen und füllt sie meiner Meinung nach auch im Vergleich zu seinen beiden Vorgängern recht gut aus. Dennoch wirkt er sehr elitär, was ihm ja auch bei der Wählerschaft zu schaffen machte.
Zweitens: In dieser Zeit fand in Frankreich eine Deindustrialisierung der Wirtschaft statt. Mittlerweile trägt die Industrie dort nur noch zehn Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei, in Deutschland sind es noch 22 Prozent. Frankreich hat zahlreiche große Unternehmen hervorgebracht, aber es gibt keinen klassischen Mittelstand als Rückgrat der Wirtschaft, wie wir ihn in Deutschland kennen.
Drittens gibt es eine zunehmende Kluft zwischen Stadt und Land, oder Peripherie und Semiperiphere, wie französische Soziologen es nennen. Schon in den Vorstädten von Großstädten fühlen sich Menschen völlig abgehängt von der Pariser Elite, in vielen Dörfern gibt es kein Postamt oder kleine Geschäfte mehr, Dörfer veröden. Die Proteste der „Gelbwesten" zeigten dies sehr deutlich. Man kann also sagen, die Pariser Elite hat das Land in eine Krise geführt. Merkmale davon sind eine hohe Staatsverschuldung und die gescheiterte Integration der Einwanderer.
Das heißt, der französische Staat wird idealerweise gelenkt von einer integren, starken Persönlichkeit?
So war es intendiert von dem Gründer der Fünften Republik, Charles de Gaulle, dem ersten Staatspräsidenten, der auch dieses Amt entsprechend mit seiner Persönlichkeit ausgefüllt hat. Ebenso seine Nachfolger Pompidou, Giscard D’Estaing und Mitterand, bei allen Defiziten. Es ist ein Amt mit einer Machtfülle, die kein anderes Staatsoberhaupt mehr in Europa innehat.
Nun arbeitet Frankreich seit gefühlten Jahrzehnten an dringend notwendigen politischen Reformen. Warum sind diese notwendig?
Das politische System beruhte von Anfang an auf der Rechts-Links-Achse. Es gab die sozialistische Partei und die Gaullisten, die späteren „Républicains". Erstmals aufgeweicht hat dies Jean-Marie Le Pen mit dem rechtsextremistischen Front National, aber das Mehrheitswahlrecht in Frankreich hat den Einfluss des Front verhindert. Dann entstanden die Grünen, die Linkspopulisten, Macrons La République En Marche und weitere Splitterparteien. Nach der aktuellen Wahl sind die alten Gewissheiten völlig dahin, die Sozialisten wie die Republikaner völlig am Boden. Macrons Partei ist noch nicht einmal eine richtige Partei, es ist ein diffuses Konglomerat ohne Basis, was sich bei den Regionalwahlen vergangenes Jahr gezeigt hat. Die Wähler sind desorientiert, politisch bindungslos und zunehmend unpolitisch, wenn man sich die Statistiken der vergangenen Wahlbeteiligungen ansieht.
Was also ist zu tun?
Ein Verhältniswahlrecht einzuführen, in dem mehr Parteien als nur die beiden ehemals großen Traditionsparteien repräsentiert werden, wurde mehrfach versucht, aber nicht zu Ende geführt. Das würde im Augenblick auch zu größerem politischen Chaos führen: Die alten Blöcke gibt es nicht mehr, und die aktuelle Zersplitterung des politischen Systems würde zu Zuständen führen wie in Italien, wo man eine ganze Reihe von Parteien in einer regierungsfähigen Koalition versammeln müsste. Eine gleichzeitige Reform des Präsidialamtes würde die starke Führungsrolle des Präsidenten einschränken. Im Augenblick sehe ich kaum Ansätze, dieses Dilemma aufzulösen.
Das klingt, als würde eine Reform ohnehin zu spät kommen.
Politische Reformen der Verfassung wurden nie angepackt. Hätte man sie früher durchgezogen, wäre das politische System stabiler, die großen Parteien hätten nie so stark an Einfluss verloren. Macron hat das System durcheinandergewirbelt, indem er die traditionellen Sozialisten und Republikaner obsolet machte und in seinem Kielwasser viele andere Splitterparteien und Bewegungen wie die von Jean-Luc Mélenchon ihre Chance wittern.
Populisten stehen, erkennbar schon nach den Ergebnissen des ersten Wahlganges, hoch im Kurs bei der französischen Wählerschaft. Wechselt die sonst traditionell links orientierte Arbeiterschaft wie in anderen europäischen Staaten ins rechte Populistenlager?
Das ist mittlerweile in Frankreich so. In seinem Buch „Retour a Reims" zeichnet der Soziologe Didier Eribon seine Kindheit in einem Arbeiterviertel nach. Bis in die 70er-Jahre wählte man dort kommunistisch. Als Eribon 20 Jahre später zurückkehrt, wählen 80 Prozent der Einwohner den rechtsextremen Front National. Mélenchons Klientel dagegen ist eher diffus, städtisch, intellektuell geprägt.
Wie kommt dieser Lagerwechsel zustande?
Im Norden und Osten des Landes angesiedelt war traditionell die alte Industrie Frankreichs, Kohle und Stahl. Diese Werke sind in den meisten Fällen heute geschlossen. Da die Linke Frankreichs damals ebenfalls den Neoliberalismus wie überall in Europa pries, führte dies zu großem Frust unter der traditionellen Klientel der Sozialisten. Im Süden und der Provence ist der Grund ein anderer, dort ist der Einfluss der algerischen Franzosen groß. Sie lasten noch immer den Verlust der algerischen Kolonie der Regierung in Paris an und wählten daher immer stärker rechts. Hinzu kommt die verfehlte Integrationspolitik für Zuwanderer, die sich zum Beispiel in den Vorstädten von Marseille und Toulouse niedergelassen haben.
Die aktuelle Wahl zeigt: Die Traditionsparteien sind völlig im politischen Abseits. Ist dies überall der Fall?
Nein, vor allem in den Kommunen und unter den Regionalpräsidenten finden sich nur Republikaner oder Sozialisten, kein Politiker von Macrons „LREM" oder Le Pens „Rassemblement National". Die Persönlichkeiten der Provinz haben eine starke Position. Die Bürgerinnen und Bürger kennen diese Personen, anders als die Verwaltung in Paris. Nicht umsonst hatte Macron mit Jean Castex einen Provinzpolitiker zum Premierminister ernannt, um das Bild der abgehobenen Pariser Elite zu konterkarieren.
Vor allem auf dem Land herrscht großer Unmut über die Elite in Paris – liegt dies am Zentralismus?
Der Zentralismus ist in den Zeiten der Monarchie begründet, um das Land zusammenzuhalten. Heute ist er nicht mehr zeitgemäß, ja verheerend. Er bedeutet, dass eine Gruppe von wenigen Zehntausend im 6. und 7. Arrondissement in Paris die Geschicke eines ganzen Landes und von 67 Millionen Einwohnern lenkt. Diese Elite rekrutiert sich aus den immer gleichen Leuten, ist völlig abgehoben vom Rest des Landes. Alle Dezentralisierungsversuche waren bislang Augenwischerei. Im Zweifel entscheidet Paris, wie die neue Straße aus dem Dorf X ins Dorf Y führt. Die Bürgermeister haben wenig zu entscheiden. Das führt zum Frust vieler Landbewohner. Übrigens auch die Zusammenlegung von historischen Départements zu den sogenannten Regions, wie etwa Grand-Est; damit konnten sich die Menschen bis heute nicht identifizieren. Auf kommunaler Ebene ihren politischen Willen auszudrücken bringt den Menschen also im Grunde genommen wenig, wenn letzten Endes ohnehin Paris entscheidet. Eine Dezentralisierung aber bleibt schwierig, denn dann müsste die Pariser Elite ihre Macht teilen.
Reformen sind offenbar in Frankreich sehr schwer umzusetzen. Warum ist das Land so widerständig?
Die Debatte um Reformen ist uralt. Angefangen hat sie Ende der 70er-Jahre, als Alain Peyrefitte sein Buch „Le Mal Français", das „französische Übel", herausbrachte. Es folgte sehr viel Literatur, die den immer gleichen Trend zeigt: Wir müssen uns reformieren, aber wir scheitern an struktureller Reformunfähigkeit. Zentralismus führt zur Entmündigung der Bürger, Frankreich besitzt keine Zivilgesellschaft, die mit der deutschen vergleichbar wäre. Beispielsweise sind nur sechs Prozent der Menschen in Gewerkschaften organisiert, in Deutschland noch 18 Prozent. In Umfragen sind die Franzosen immer für Reformen. Sobald sie jedoch umgesetzt werden sollen, sind gesellschaftliche Gruppen dagegen. Auch wenn diese Gruppen nicht die Mehrheit stellen, scheitern die Reformen dann an den mitunter hart geführten Protesten von Minderheiten auf der Straße – dem einzigen Mittel für die französische Gesellschaft, ihren Unmut auszudrücken.
Nach der Wahl ist vor der Wahl – was erwarten Sie von der Wahl zur Nationalversammlung im Juni?
Bei der vergangenen Wahl 2017 gingen lediglich 35 Prozent der Franzosen an die Urne – man stelle sich diese Wahlbeteiligung bei einer Bundestagswahl vor. Hier entscheidet sich aber, welche Mehrheiten ein Staatspräsident für seine künftige Politik erhält oder bei wem er sich diese beschaffen muss.
Falls er keine Mehrheit erhalten sollte, wie regiert ein Präsident dann erfolgreich?
Jean-Luc Mélenchon hat ja bereits gesagt, bei der Wahl zur Nationalversammlung werde seine linkspopulistische Bewegung „La France Insoumise" so viele Stimmen bekommen, dass man nur mit ihm regieren könne. Eine sogenannte „Cohabitation" hat es bereits mehrfach gegeben, das heißt ein französischer Präsident arbeitet mit der Mehrheitspartei in der Nationalversammlung zusammen. Der Gaullist Jacques Chirac arbeitete fünf Jahre lang mit dem Sozialisten Lionel Jospin als seinem Premierminister. Zwar hat der Präsident große Vollmachten in Außen- und Sicherheitspolitik, innenpolitisch aber ist es meist schwierig für ihn, wenn seine Partei nicht die absolute Mehrheit der Parlamentssitze gewinnt. Das hätte auch europäische Auswirkungen, weil dies seine Handlungsfähigkeit einschränkt.
Welche Auswirkungen hätte dies auf Frankreichs Rolle in der EU angesichts der derzeitigen wirtschaftlichen Schwäche?
Bis zur Finanzkrise 2008 hatte Frankreich eine Führungsrolle in Europa beansprucht, Deutschland fuhr im Kielwasser mit. Das hat sich seither umgekehrt, wegen eben jener wirtschaftlichen Schwäche Frankreichs. Dies läuft ihrem Großmachtanspruch auch als Nuklearmacht zuwider. Frankreich aber hat erkannt, dass es diese Rolle nicht mehr alleine ausfüllen kann und Deutschland dazu wirtschaftlich braucht. Macron hatte dazu einige Ideen formuliert, die Angela Merkel jedoch alle hat an sich abprallen lassen. Deshalb ist zu wünschen, dass Kanzler Scholz dies anders sieht. Die gegenwärtige Struktur macht es der EU schwierig, angesichts der wirtschaftlichen Schwäche einiger Staaten, ihrer Verschuldung und eines fehlenden Lastenausgleichs untereinander eine gemeinsame Politik zu betreiben. Deshalb plädiere ich, wie im Übrigen auch Macron, für ein Kerneuropa aus Deutschland, Frankreich und Polen. Frankreich müsste auf einen Teil seiner Souveränität verzichten und dürfte die EU nicht mehr als verlängerten Arm von Paris betrachten.