Die erste Amtszeit Emmanuel Macrons war zwiespältig – der Präsident hat Projekte wie die Rente mit 65 verschoben, die Proteste waren zu groß. Dieses und weitere Vorhaben will er nun in seiner zweiten Amtsperiode anpacken.
Es liest sich gut. Auf den ersten Blick. Die französische Wirtschaft schlägt sich nach der Corona-Pandemie besser als die des ewigen Rivalen Deutschland. Die Mittelschicht konnte ihren Lebensstandard steigern – trotz der schlimmsten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg. Frankreich ist weniger abhängig von russischen Energieimporten als Deutschland. Die Atomkraft wurde von der EU als grün eingestuft, sprich freie Fahrt für den Bau neuer Atomkraftwerke. Frankreich ist nach dem Brexit die einzige Atommacht in der EU. Ja, und arbeiten müssen unsere Nachbarn offiziell nur bis 62, obwohl Macron das Rentenalter in seiner neuen Amtszeit schrittweise lediglich auf 65 anheben möchte. Da können wir Deutschen wohl nur neidlos zuschauen.
Doch der Schein trügt. Frankreich lebt auf Pump und ist sehr hoch verschuldet. Nach Angaben des französischen Statistikamts INSEE sind in der Pandemie die Staatsschulden von 98 auf 116 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) nach oben geschnellt, sprich 2,8 Billionen Euro Schulden. 240 Milliarden Euro pumpte Macron in die Krisenbewältigung wie Kurzarbeitergeld oder finanzielle Unterstützung für in Not geratene Betriebe. Frankreich hat mehr Schulden als Italien. Solange die Zinsen niedrig und die Wachstumsraten hoch sind, mag die Rechnung aufgehen, um aus den Schulden herauswachsen zu können. Immerhin ist der Schuldenstand laut INSEE Ende 2021 auf 113 Prozent des BIP gesunken, ebenso das öffentliche Defizit von 8,9 auf 6,5 Prozent. Das war allerdings vor dem Krieg in der Ukraine. Angesichts der steigenden Inflation wegen der Russland-Krise gerät die Europäische Zentralbank (EZB) immer stärker unter Druck, endlich gegenzusteuern und die Leitzinsen in Europa zu erhöhen. Aber Frankreich hat vorgebaut und sich mit anderen Mittelmeeranrainerstaaten wie Italien und Griechenland für neue strategische Allianzen zusammengetan. Diese Länder haben nämlich allesamt kein allzu großes Interesse daran, zu den alten finanzpolitischen Regularien in der EU zurückzukehren, nämlich das Defizit auf drei Prozent und die Verschuldung auf 60 Prozent der Wirtschaftsleistung zu begrenzen. Der finanzpolitische Schlendrian der südeuropäischen EU-Länder wird damit seinem Ruf wieder einmal gerecht, zumal den Nordeuropäern wie Deutschland der wichtige Partner Großbritannien in diesem ewigen Schuldenstreit Nord gegen Süd nun fehlt.
Höherer Leitzins wäre problematisch
Macron hat die Gunst der Stunde genutzt und ist innerhalb der EU längst aus dem Schatten Angela Merkels herausgetreten, zumal der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, so scheint es, zumindest in der EU noch nicht seine Position gefunden hat. Macron ist es sogar gelungen, Deutschland von der Idee eines europäischen Wiederaufbauplans wegen der Corona-Krise zu überzeugen. Nicht ganz uneigennützig, denn EU-Gelder machen rund 40 Prozent des französischen Konjunkturpakets aus. Darüber hinaus gilt Macron als der große Visionär, der der EU neue Impulse verleihen kann, auch ohne das viel zitierte deutsch-französische Tandem. Die EU-Ratspräsidentschaft Frankreichs im ersten Halbjahr 2022 spielt ihm dabei in die Karten. Das Problem: Die Franzosen interessiert das Europathema kaum, wie bereits der erste Wahldurchgang gezeigt hat.
In der Außen- und Verteidigungspolitik glänzen und in der Innenpolitik die Probleme der jeweiligen Regierung zuschieben – das gehört seit jeher zu den „Tugenden" der französischen Präsidenten der Fünften Republik. Da bildet Emmanuel Macron keine Ausnahme. Frankreich ist die einzig verbliebene Atomstreitmacht in der EU, ist in allen fünf Erdteilen durch überseeische Territorien und Départements mit Stützpunkten vertreten, pflegt historisch bedingt privilegierte Beziehungen zu Afrikas Staatenlenkern und gilt als großer Fürsprecher für eine massive Stärkung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsstrategie. Das verleiht der Mittelmacht Frankreich in der Welt zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung durchaus großes Gewicht.
Frankreich baut neue Atommeiler
Auch in der Energiepolitik läuft es nach außen hin betrachtet einigermaßen rund für den Präsidenten. Die zivile Nutzung der Atomkraft ist in Frankreich in großen Teilen der Bevölkerung unumstritten. Lediglich die Grünen und die Linke La France Insoumise sind für den Ausstieg aus der Atomenergie. Allerdings spielt dieses Thema derzeit aufgrund der Russland-Krise und der damit verbundenen Energieabhängigkeit Europas eine untergeordnete Rolle. Im Gegenteil: Insgesamt 14 neue Atommeiler der neuen Generation mit Kosten bis zu 65 Milliarden Euro sollen bis 2050 ans Netz neben den verlängerten Laufzeiten der Reaktoren bis zu 50 Jahren. Zusätzlich gibt es eine Milliarde Euro für die Entwicklung und den Bau sogenannter Minireaktoren aus dem mit acht Milliarden Euro schweren Dekarbonisierungsprogramm der Wirtschaft bis 2030. Über 70 Prozent des Stroms stammt in Frankreich aus Atomkraftwerken, die restlichen knapp 30 Prozent überwiegend aus regenerativen Energiequellen wie Wasserkraft.
Außen also hui, innen pfui, innenpolitisch ist vieles Stückwerk geblieben. Das große Vorhaben Macrons, das französische Rentensystem zu reformieren, wurde wieder einkassiert und in die kommende Amtszeit verschoben. Zu groß waren 2018 die Proteste in Form der Gelbwestenbewegung, obwohl der Ausgangspunkt dieser Revolte aus dem Nichts die Spritpreiserhöhung war. Dabei fing es gut an für Macron: Die Arbeitsmarktreformen zu Beginn seiner Präsidentschaft 2017 waren noch erfolgreich. Die Lockerung des Kündigungsschutzes, aber der gleichzeitige Umbau der Arbeitslosenversicherung, so dass auch kündigende Mitarbeiter Leistungsansprüche haben, hatte zur Folge, dass den Kritikern der Wind aus den Segeln genommen wurde. Außerdem ging die Arbeitslosenzahl zurück wie seit 14 Jahren nicht mehr, allen voran bei jüngeren Menschen von durchschnittlich 30 auf unter 20 Prozent. Ersatzlos gestrichen wurde auch die Wohnsteuer für Erstwohnsitze in Frankreich. Die Abschaffung der Vermögenssteuer ohne Gegenleistung und die Pauschalbesteuerung von Einkommen aus Kapitalbesitz brachten Macron aber den Ruf des Präsidenten der Reichen ein. Das Fass zum Überlaufen brachte schließlich die Erhöhung der Ökosteuer auf Benzin ohne soziale Abfederung, was in die Gelbwestenbewegung mündete. Der Reformeifer Macrons kam zum Erliegen.
Jetzt plant er einen neuen Anlauf, aber nicht so radikal wie vor fünf Jahren. Die Rente ab 65 soll schrittweise erfolgen; die Mindestrente von 1.000 Euro auf 1.100 Euro erhöht werden; an die Sonderprivilegien der Bediensteten im öffentlichen Dienst, in staatlichen Unternehmen oder der Eisenbahn wie Rente ab 55 ohne Abschläge wagt er sich nicht mehr ran. Angehoben wird auch der Mindestlohn ab Mai und zur Stärkung der Kaufkraft der Arbeitnehmer soll es eine steuerfreie Prämie von bis zu 6.000 Euro geben angesichts der hohen Inflation sowie zusätzliche Steuersenkungen von rund 15 Milliarden Euro. Wie Frankreich diese sozialen Wohltaten aber finanzieren will, bleibt unbeantwortet, obwohl die Franzosen – rund 70 Prozent lehnen die Anhebung des Rentenalters ab – wissen, dass sie länger arbeiten müssen, wenn der Wohlstand für alle gehalten werden soll. Schon heute zahlt der Staat rund 14 Prozent seines BIPs in das Rentensystem, das Selbstständige oder Menschen mit Unregelmäßigkeiten im Lebenslauf benachteiligt. Weitergehende Reformen oder Steuererhöhungen sind laut Fachleuten unabdingbar, um dieses verkrustete System noch halbwegs finanzieren zu können.
Wahlen im Juni sind unkalkulierbar
Positives gibt es hingegen vom französischen Arbeitsmarkt zu berichten. Nach Zahlen einer Studie des französischen Arbeitsamtes „Pôle Emploi" dürfte Frankreich dieses Jahr ein Rekordniveau erreichen. Die Studie weist für 2022 über drei Millionen geplante Neueinstellungen aus, 323.000 mehr als 2021 und mehr als die Hälfte davon unbefristet. Zudem hat die Zahl der Start-ups und jungen Unternehmen in den vergangenen Jahren stark zugenommen.
Es besteht kaum Zweifel daran, dass die Franzosen bei weitreichenden Reformen samt Steuererhöhungen auf die Straße gehen. Das weiß Macron nur zu gut, schließlich steht der nächste wichtige Urnengang bereits vor der Tür: Die Wahlen zur Nationalversammlung voraussichtlich am 12. und 19. Juni dieses Jahres. In zwei Wahlgängen wählen die Franzosen nach dem Mehrheitswahlrecht die 577 Abgeordneten der Assemblée Nationale in Paris. Hatte 2017 die Macron-Bewegung „La République en Marche" LREM mit ihren Unterstützern noch eine komfortable Mehrheit im Rausch der Erneuerung Frankreichs errungen, steht eine Wiederholung dieses Erfolgs in den Sternen. Die allgemeine Unzufriedenheit mit Macrons Politik, die unsichere wirtschaftspolitische Lage, der tiefe Fall der Sozialisten und Konservativen und der damit verbundene Werteverfall der etablierten Parteien, die europafeindliche und rassistische Extreme Rechte, eine Vielzahl an Splitterparteien sowie die geringe Verwurzelung der „neuen" Mittebewegung „Ensemble Citoyens" in der Bevölkerung machen die Wahlen im Juni zu einem unkalkulierbaren Risiko für den Präsidenten. Eine Kohabitation, sprich Präsident und Regierung kommen aus unterschiedlichen politischen Lagern, liegt durchaus im Bereich des Möglichen. Das gab es schließlich schon dreimal in Frankreich wie in den 80er- und 90er-Jahren unter dem sozialistischen Präsidenten François Mitterrand mit den konservativen Premierministern Jacques Chirac und Edouard Balladur sowie unter Chirac als Präsident und dem Sozialisten Lionel Jospin. Vieles hängt davon ab, wie der frisch gewählte Präsident sein Wahlvolk bei Laune halten kann zum Beispiel mit sozialen Versprechen, die Frankreichs Staatskasse aber weiter enorm belasten würden. Eine Regierung ohne Präsidentenmehrheit wäre eine Schwächung des Präsidenten in einer Zeit, in der die Kräfte für andere Aufgaben dringender benötigt würden.
Es bleibt spannend, wie Macron Versäumtes nachholen und bei seinen Landsleuten den dringend benötigten Reformkurs durchsetzen will. Beliebt ist er bei seinen Landsleuten nicht. Eher das kleinere Übel in unsicheren Zeiten.