Die Online-Hetze wird aggressiver, der Weg von virtuellen Hassreden zu Gewalt in der realen Welt auch in Deutschland kürzer. Nicht nur die Mörder von Halle an der Saale, Christchurch und Hanau haben sich im Netz radikalisiert. Eine neue Software soll Juden-Hass im Netz gezielt aufspüren.
Jeder und jede Fünfte in Deutschland meint, ein Problem mit Jüdinnen und Juden zu haben, hegt also antisemitische Einstellungen. Unter 18- bis 29-Jährigen sei es sogar jeder und jede Dritte. Das ergab eine Umfrage, die der Jüdische Weltkongress Ende Januar veröffentlicht hat.
Gleichzeitig wüssten junge Leute immer weniger über die Shoah. „Sechs von zehn Befragten konnten nicht eindeutig sagen, dass sechs Millionen Jüdinnen und Juden im Holocaust ermordet wurden", heißt es in dem Bericht. Ein differenzierteres Bild liefert die Studie „Generation Z und die NS-Geschichte" des Rheingold-Instituts. Im vergangenen Herbst befragte das Institut im Auftrag der Arolsen Archives 75 repräsentativ ausgewählte junge Menschen zwischen 16 und 25 Jahren sowie eine ältere „Kontrollgruppe" zu ihren Einstellungen zum Dritten Reich. Die Untersuchung bescheinigt den jungen Erwachsenen ein „hohes Interesse an der Geschichte des Nationalsozialismus". Viele der Befragten machten sich Gedanken darüber, wie sie sich selbst unter dem Nazi-Regime verhalten hätten und spürten eine gewisse „Faszination" für diesen Teil der deutschen Geschichte. Fast jeder und jede Zweite meinte, dass man „gleich in eine Schublade gesteckt" würde, wenn man sich zu dem Thema äußere. Daher hätten 44 Prozent der Befragten Angst, etwas zum Thema zu sagen. 64 Prozent meinten, es erfordere „Mut", sich mit der NS-Geschichte zu befassen.
„Hohes Interesse" an der Nazi-Zeit
Ihr eigenes Wissen über den Nationalsozialismus schätzten 39 Prozent der Befragten als durchschnittlich ein, zehn Prozent als sehr gut und 40 Prozent als gut. 57 Prozent der Befragten nannten die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus in etwa korrekt. Gleichzeitig werde deutlich, so die Forschenden, dass „Antisemitismus" als Begriff und Phänomen von den Befragten weniger explizit thematisiert wird. Rund ein Drittel der Interviewten sagten sogar, dass sie sich nicht für die NS-Geschichte interessierten und 44 Prozent meinten, sie hätten sich „schon genug mit dem Thema auseinandergesetzt". Die verfügbaren Informationen nannte jeweils rund ein Viertel „zu langweilig" oder „zu komplex".
Obwohl dieser Studie zufolge die meisten Menschen in Deutschland relativ gut über den Nationalsozialismus und die Verfolgung von Jüdinnen und Juden im Dritten Reich informiert sind, nehmen antisemitische Einstellungen und Rassismus wieder zu.
Manche hetzen im Internet offen gegen Minderheiten, andere verschlüsseln ihre Botschaften. So entgehen sie den Algorithmen von Facebook, Twitter und anderen Plattformen, die allzu krasse Hassbotschaften ausfiltern, sperren oder löschen. Ein Klick in einschlägige Internetforen wie „Politically Incorrect" oder auf 4chan reicht, um in Abgründe zu blicken. Da behaupten User unwidersprochen, dass „Juden die Kirche kontrollieren", um auf diesem Wege „die Weißen zu beherrschen". Kein Verschwörungs-Blödsinn ist aberwitzig genug, um nicht verbreitet zu werden. Längst findet der Hass im Internet seinen Weg in die analoge Welt. In Deutschland demonstrierten Menschen mit angehefteten gelben Judensternen gegen eine mögliche Impfpflicht. „Ungeimpft" steht in Frakturschrift auf den Aufnähern. Impfgegner behaupten, ihnen gehe es „wie den Juden im Nazi-Reich" oder vermuten gar die jüdische Weltverschwörung hinter der „Plandemie".
89 Prozent, also neun von zehn Jüdinnen und Juden in Deutschland sehen im Antisemitismus ein Problem in ihrem Alltag. „Die Leute überlegen sich genau, ob sie sich als Jüdin oder Jude sichtbar machen", sagt Alexander Rasumny vom Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) in Berlin. Auch wenn nicht täglich Juden angegriffen würden, könne es doch jeden Tag passieren, und danach richteten die Menschen ihren Alltag aus. Jede antisemitische Tat habe für andere „einen Botschaftscharakter". 2020 zählte Rias 1.909 antisemitische Vorfälle, 450 mehr als im Jahr zuvor. Auch die Beratungsstelle Ofek meldet für die Zeit von Sommer 2020 bis Sommer 2021 fast doppelt so viele Fälle wie 2019/20. Im Februar 2022 beantwortete die Bundesregierung eine Parlamentarische Anfrage der Linken-Abgeordneten Martina Renner mit folgenden Zahlen: 2020/21 habe es in Deutschland 609 antisemitische Straftaten „mit Bezug zur Corona-Pandemie" gegeben, darunter drei Gewaltdelikte. Schlagzeilen machte im Dezember 2021 ein Mord im brandenburgischen Senzig. Ein Mann tötete dort erst seine Familie und dann sich selbst. Er war davon überzeugt, dass „der Staat mit der Impfkampagne die Weltbevölkerung halbieren wolle, um dann eine neue Weltordnung unter jüdischer Führung zu errichten".
Radikalisierung auf Telegram
Verschwörungserzählungen, die im Zuge der Pandemie verbreitet wurden, hält Rasumny für „strukturell antisemitisch". Wenn es gegen (angebliche) „Eliten" gehe, seien damit immer auch Jüdinnen und Juden gemeint. Als Beispiel nennt Alexander Rasumny die Hetze des in der Türkei untergetauchten Kochs Attila Hildmann, dem Tausende auf Telegram folgen. Wissenschaftler wie der Historiker und Soziologe Günther Jikeli beobachten in deutschsprachigen Telegram-Kanälen „eine Normalisierung von Antisemitismus und Verschwörungstheorien". In Kanälen wie „The Rise 2020" oder „True Secrets" (Wahre Geheimnisse) soll behauptet worden sein, dass die Merkel-Raute, also die typische Geste von Angela Merkel, ein Zeichen der „Rothschild-Illuminaten" sei. Andere bezeichnen Außenministerin Annalena Baerbock als „Soros-Musterschülerin". Sie beziehen sich dabei auf den jüdischstämmigen Mäzen George Soros. Impfungen gelten dort manchen als „Juden-Giftspritzen".
Der Wissenschaftler Daniel Miehling hat an der Technischen Universität Berlin ein Jahr lang acht Chatgruppen auf Telegram intensiv beobachtet und dort bisher rund 1.000 Posts ausgewertet. „Ein Fünftel dieser Botschaften sind antisemitisch", schätzt er. Hinzu kämen „14 Prozent, die Hetze und Gewaltfantasien" beinhalteten. „Man müsse Falschmeldungen nur oft genug wiederholen, bis die Leute nicht mehr widersprechen und immer mehr Menschen sie dann auch glauben." Es ist ein Phänomen, das sich Donald Trump in den USA und auch Wladimir Putin im Propaganda-Krieg gegen die Ukraine zunutze machten und machen. Schätzungen zufolge glaubte Anfang April immer noch eine Mehrheit der Menschen in Russland, die Regierung der Ukraine bedrohe ihr Land und man müsse das Nachbarland „entnazifizieren".
Forscher Miehling sieht die Bedeutung von Telegram als oft einziges einigermaßen sicheres Kommunikationsmittel für Oppositionelle etwa im Iran, in China und Hongkong oder aktuell in Russland. Gleichwohl dienten die abgeschlossenen Chatgruppen hierzulande oft als Echokammer für abstruse Verschwörungsgeschichten. Geteilt würden dort Memes (Symbolbilder), die George Soros oder den aus einem jüdischen Elternhaus stammenden Facebook-Gründer Mark Zuckerberg als hakennasige Krake zeigten oder die QAnon-Mär. Die behauptet, dass „Eliten" Kinderblut tränken, um das Verjüngungsmittel „Adrenochrom" zu gewinnen. Beliebte Feindbilder seien auch das Weltwirtschaftsforum und die Geschichte von der „Neuen Weltordnung" durch Klaus Schwab. Diesem dichten Verschwörungserzähler eine jüdische Verwandtschaft an. Die Mitglieder dieser geschlossenen Telegram-Gruppen schaukelten sich gegenseitig zu immer abstruseren Thesen auf. Wer widerspreche, werde ausgeschlossen oder hinausgedrängt.
Der Politikwissenschaftler und Digital-Experte Benjamin Fischer leitet das Programm der Alfred Landecker Foundation in Berlin. Zusammen mit dem Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin entwickeln hier Forschende im Projekt „Decoding Antisemitism" (Antisemitismus entschlüsseln) ein Computerprogramm, das versteckte, antisemitische Hassbotschaften im Internet aufspürt.
„Antisemitismus ist eine Form des Hasses, die oft in Chiffren kommuniziert wird", sagt Fischer. Und genau deswegen sei es wichtig, implizite, also versteckte Formen des Hasses greifbar zu machen. Computerprogramme sind grundsätzlich dumm. Sie erkennen nur, was Menschen ihnen vorher beigebracht haben. Ironie, Witze oder Abwertungen, die man nur im Zusammenhang mit anderen Aussagen als solche wahrnimmt, kann auch intelligente Software normalerweise nicht als Hassrede erkennen. Im Netz richtet sich der Hass oft gegen George Soros. Statt ihn direkt herabzuwürdigen, schreiben seine Gegner Symbole wie Schlangen oder Dollar-Zeichen, statt der Buchstaben „S" in seinen Namen.
Um auch versteckte Zusammenhänge von scheinbar harmlosen Botschaften zu erkennen, arbeiten im Team von „Decoding Antisemitism" Fachleute aus der Linguistik, der Diskurs- und Bildanalyse, der Geschichte, Sozial- und Politikwissenschaften sowie der Antisemitismusforschung. Gemeinsam haben sie bisher mehr als 50.000 antijüdische Kommentare auf britischen, französischen und deutschen Medienseiten ausgewertet.
Als im Mai 2021 der Gaza-Krieg eskalierte, stieg die Zahl antijüdischer Hasskommentare vor allem in Großbritannien deutlich an. Auf den Seiten großer deutscher und französischer Medienhäuser waren demnach zwölf bis 13 Prozent der Kommentare antisemitisch, in Großbritannien etwa doppelt so viele.
Doch wo fängt Antisemitismus an? Schon bei der Kritik an den israelischen Luftangriffen auf den Gazastreifen als Antwort auf die Raketen der dort regierenden Hamas? Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei „Decoding Antisemtism" orientieren sich an der Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Die arbeitet mit Beispielen.
Software deckt digitalen Hass auf
Für Projektleiter Matthias Jakob Becker von der TU Berlin sind „Äußerungen antisemitisch, in denen judenfeindliche Stereotype auf jüdische Menschen projiziert werden". Als Beispiele nennt er Behauptungen, wie (alle) Juden seien „geldgierig, mächtig, sie kontrollieren die Medien, trinken das Blut von Kindern und so weiter". Straftaten seien dann antisemitisch, wenn „die Angriffsziele deshalb ausgewählt werden, weil sie jüdisch sind, als solche wahrgenommen oder mit Jüdinnen und Juden in Verbindung gebracht werden".
Becker, Fischer und weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei „Decoding Antisemitism" wollen ein Open-Access-Tool, also eine frei zugängliche Software entwickeln, die auch versteckte, verklausulierte antijüdische Hassbotschaften sichtbar macht. Ähnlich arbeitet das Forschungsprojekt „Digitaler Hass" der Alice Salomon Hochschule und der Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW, beide ebenfalls in Berlin. Es füttert einen Algorithmus mit Verschwörungsgeschichten, die die Leute im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie ins Netz stellen und verbreiten.
„Wir durchsuchen große Texte-Korpora nach insbesondere rassistischen und antisemitischen Narrativen in den verschwörungstheoretischen Diskursen", erklärt die Mathematikerin und Datenwissenschaftlerin Helena Mihaljević. Auch hier forschen sie in einem interdisziplinären Team nach Methoden zur automatischen Erkennung von Hass und Hetze – in diesem Falle im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. Ihre Daten beziehen sie aus Kanälen der sogenannten Querdenker auf Twitter und Telegram. Bisher, sagt Helena Mihaljević, gibt es kaum vergleichbare Forschung, vor allem nicht in den deutschsprachigen Ländern.
Besonders hier fällt den Forschenden auf, wie alte antisemitische Verschwörungsgeschichten sich mit neuen Formen des Hasses vermischen. Als Beispiel nennt Mihaljević den Vergleich von Lockdowns und Impfpflicht mit dem Naziterror gegen Jüdinnen, Juden und andere Verfolgte. Neu sei auch die Vermischung der aus den USA stammende QAnon-Erzählung mit antisemitischen und anderen rassistischen Verschwörungsgeschichten.
Ihre Erkenntnisse wollen „Decoding Antisemitism" und „Digitaler Hass" Bildungseinrichtungen, anderen Forschenden und der Zivilgesellschaft zur Bekämpfung von Hass und Hetze zur Verfügung stellen.