Emanuel Buchmann setzt in diesem Jahr alles auf die Karte „Giro". Bei der Italien-Rundfahrt will der deutsche Radrennfahrer endlich aufs Podium einer Grand Tour stürmen. Vor allem, weil Dominator Tadej Pogacar nicht teilnimmt.
Fahrradfahren auf Autobahnen ist eigentlich strikt verboten, selbst wenn Profi-Radrennfahrer auf dem Sattel sitzen. Doch beim diesjährigen Giro d’Italia wollen die Organisatoren auf der 12. Etappe eine Ausnahme machen: Sie planen, die Autobahnbrücke San Giorgio in Genua für ein paar Stunden zu sperren, damit das Teilnehmerfeld erstmals in der Geschichte der Italien-Rundfahrt über einen Autobahnabschnitt rollen kann. Warum der Aufwand? Für eine Hommage. An dieser Stelle waren am 14. August 2018 beim Einsturz der Morandi-Brücke insgesamt 43 Menschen ums Leben gekommen. „Der Giro hat eine lange Tradition, Momente des Schmerzes zu würdigen, die das Land erlebt hat", sagte Genuas Bürgermeister Marco Bucci.
Die neue Brücke sei „ein Monument des Stolzes", sie habe es mehr als alle anderen Plätze in der Region verdient, „überquert zu werden". Momente wie dieser sind zwar auch für die Fahrer speziell, doch der Fokus wird schnell wieder auf dem Rennen liegen. Auch bei der 105. Auflage des Giro d’Italia (6. bis 29. Mai) steht für die Teams viel auf dem Spiel. Die Spannung vor der ersten großen Rundfahrt des Jahres ist auch deshalb so groß, weil es keinen ausgewiesenen Favoriten gibt. Rad-Dominator Tadej Pogacar nimmt in diesem Jahr zwar zwei Grand Tours in Angriff, allerdings entschied sich der Slowene neben der Frankreich-Schleife für die Vuelta im Spätsommer. In Abwesenheit des Tour-de-France-Gewinners der vergangenen beiden Jahre stellt sich die Frage: Wer gewinnt stattdessen das Rosa Trikot?
Kandidaten gibt es viele – auch ein Deutscher wird von den Experten hoch gehandelt. Emanuel Buchmann hat seinen Saisonhöhepunkt auf den Mai gelegt, beim Giro will er endlich wieder im Gesamtklassement einer Grand Tour eine Hauptrolle spielen. „Das Giro-Profil hat mich schon ein bisschen angelacht", sagte der Ravensburger. Ganz anders das Strecken-Profil der diesjährigen Tour de France, das dem Kletterer nicht entgegenkommt, weil es viele Zeitfahrkilometer beinhaltet. Also verzichtet Buchmann schweren Herzens auf die Große Schleife, was seine Motivation für den Giro aber nur erhöht.
Die Aussichten sind gut, sechs Bergetappen – vier davon enden mit einer Bergankunft – sind ganz nach dem Geschmack des 60-kg-Leichtgewichts. Hinzu kommt, dass sein Arbeitgeber Bora-hansgrohe mit einem sehr stark besetzten Team an den Start geht. Auch der Australier Jai Hindley (Giro-Zweiter von 2020) und der Niederländer Wilco Keldermann (Giro-Dritter von 2020) dürfen sich berechtigte Hoffnungen aufs Podium machen. Einen klaren Kapitän wollten die Verantwortlichen deswegen im Vorfeld nicht bestimmen, was für Buchmann kein Problem ist. Der Gradmesser ist die Straße. „Natürlich muss man immer schauen, wie jeder durch die erste und zweite Woche kommt", sagte der 29-Jährige: „Aber wenn einer von uns dreien Chancen auf das Podium hat, dann hat er in jedem Fall zwei richtig starke Helfer an seiner Seite."
Auch die Nominierung der ausgewiesenen Bergfahrer Matteo Fabbro und Giovanni Aleotti (beide Italien) als Helfer spricht dafür, dass das deutsche Bora-Team voll auf Sieg fährt. „Auf der Gesamtwertung des Giro d‘Italia liegt in diesem Jahr bei uns ein großer Fokus", bestätigte Sportdirektor Rolf Aldag. Sprinter werden deswegen erst gar nicht mitgenommen. Tour-Etappensieger Lennard Kämna soll ebenfalls wichtige Helferdienste für das Top-Trio leisten. „Wir gehen mit viel Qualität an den Start", sagte Aldag zufrieden: „Wir haben die Chance, aggressiv und offensiv zu fahren und in den Bergen auf jede Situation zu reagieren."
Buchmanns Kampf mit Corona
Spätestens in der Höhe muss sich auch Buchmann zeigen. Sein Grundniveau bezeichnete er im Vorfeld als „gut", auch wenn ihn die Corona-Erkrankung im Herbst ein paar Körner gekostet hatte. Fast eine ganze Woche habe er „richtig flachgelegen", berichtete der Tour-Vierte von 2019, „und auch danach hat es lange gedauert, bis ich wieder meine normale Leistungsfähigkeit erreicht habe." Er habe eine „extreme Müdigkeit verspürt", sein Körper habe „einfach nicht mehr so gut regeneriert, wie ich es davor gewohnt war." Er sei im Herbst von Fahrern abgehängt worden, „mit denen ich normalerweise mithalten kann".
Als Konsequenz machte er eine längere Pause, fast einen Monat verzichtete Buchmann auf das Radfahren. „Die Pause war wichtig, um das Ganze verdauen zu können", sagte er. Die tückische Krankheit hat er inzwischen hinter sich gelassen, die Ergebnisse und Leistungen bei den jüngsten Rennen geben Anlass zur Hoffnung. Vom dreiwöchigen Höhen-Trainingslager in der spanischen Sierra Nevada ging es direkt zur Baskenland-Rundfahrt, wo sich Buchmann ohne eigene Ambitionen in den Dienst seines Kapitäns Aleksander Wlasow stellte. Danach war noch mal eine letzte Vorbereitung in der Höhe geplant, ehe der Giro startet.
Große Töne spucken wollte Buchmann aber nicht. Er wolle „fit am Start sein", sagte er, „dann wird ein gutes Ergebnis rauskommen, und dann bin ich zufrieden." Und noch ein Ziel hat der deutsche Profi: die Rundfahrt „ohne Sturz" beenden. Die Erinnerungen an die letzte Ausgabe, als er als Sechster aussichtsreich im Rennen liegend nach einem Massensturz auf der 15. Etappe an der Adriaküste aufgeben musste, sind noch immer frisch. Von der Gehirnerschütterung, die er sich damals zugezogen hatte, erholte sich Buchmann schneller als von dem Gedanken einer verpassten Großchance. „Das Aus beim Giro war echt schmerzhaft", sagte Buchmann dem Magazin „Procycling". Er selbst sei „von Tag zu Tag besser" geworden, seine Konkurrenten hätten dagegen „abgebaut". Sein Formaufbau sei „perfekt" gewesen – „und dann kam der Sturz".
Es war beileibe nicht das erste Mal für Buchmann, dass mit dem Aufprall auf dem harten Asphalt auch ein Traum zerplatzte. Auch bei der Tour 2020 und 2021 war er von Stürzen ausgebremst worden. Doch mit den schweren letzten drei Jahren will er sich am liebsten nicht mehr beschäftigen, Buchmann blickt nur noch nach vorne. Mit 29 Jahren ist er schließlich im besten Radrennalter, der vierte Platz bei der Tour de France 2019 soll nicht der Höhepunkt seiner Karriere gewesen sein. Es kann zudem nicht schaden, dass Buchmann mit dem Giro „noch eine Rechnung offen" hat, wie er selbst sagt. Das bittere Ende der Vorjahres-Veranstaltung habe ihn „gewurmt". Dieses Jahr, hofft Buchmann, „soll es anders laufen."
Gegen einen Emanuel Buchmann im Rosa Trikot haben natürlich einige Profis etwas. Einer von ihnen ist Allrounder Richard Carapaz, der schon vor drei Jahren ganz oben auf dem Podium stand. Für den Ecuadorianer wäre eine Wiederholung des Triumphes ein doppelter Grund zur Freude, denn am Schlusstag (29. Mai) feiert er seinen 29. Geburtstag. Auch Simon Yates zählt zum Favoritenkreis, der Giro-Gesamtsieg ist das erklärte Hauptziel der Saison für den ehrgeizigen Briten. Darüber hinaus machen sich auch Joao Almeida (Portugal), Mikel Landa (Spanien) und Miguel Angel Lopez (Kolumbien) Hoffnungen auf Platz eins im Gesamtklassement. Dazu kommt das Dreigespann von Bora-hansgrohe. An Sieganwärtern mangelt es also nicht, vielleicht sorgt aber auch ein Überraschungsfahrer für das große Highlight.
Das Streckenprofil ist anspruchsvoll
Wer am Ende der 21 Etappen ganz vorne stehen will, muss nicht nur in den Bergen gute Beine haben. Das Streckenprofil ist abwechslungsreich, auch sogenannte Wind-Etappen sind dabei. Der Startschuss erfolgt in der ungarischen Metropole Budapest, erst zum 14. Mal in ihrer Geschichte beginnt die Italien-Rundfahrt damit im Ausland. Ausgangspunkt ist der Heldenplatz im Herzen der Stadt, die Grande Partenza soll Zehntausende Fans anlocken und den Radsport in Ungarn noch populärer machen. Schon jetzt ist ein Trend zu erkennen, die Tour de Hungary hat sich inzwischen als fester Bestandteil im Radsportkalender etabliert.
Im Nationen-Ranking des Radsport-Weltverbandes UCI verbesserte sich Ungarn in den vergangenen sieben Jahre von Position 61 auf 29. Größtes sportliches Highlight der vergangenen Jahre war der Etappensieg von Attila Valter beim vergangenen Giro, mit dem er auch kurzzeitig ins Rosa Trikot geschlüpft war. Der Kapitän der FDJ-Mannschaft geht auch diesmal an den Start und ist beim Heim-Auftritt besonders motoviert. „Natürlich träume ich davon, das Rosa Trikot auch in der Heimat zu gewinnen", sagte Valter.
Wenn es aber um die Entscheidung geht, wird Valter keine Rolle mehr spielen. Das erste Austesten der Favoriten dürfte es auf der vierten Etappe an den Hängen des Ätna geben, die erste Bergankunft könnte sich der ein oder andere Fahrer für eine Attacke ausgeguckt haben. Richtig ernst wird es aber auf Etappe neun von Isernia hinauf zum Blockhaus (1665 m), der bereits zum sechsten Mal angefahren wird. Auch die 16. Etappe von Salo nach Aprica mit drei großen Bergen hat es in sich. Als Königsetappe gilt jedoch die Strecke, die am 28. Mai von Belluna nach Marmolata führt und den Fahrern alles abverlangt. Vor allem der 14 Kilometer lange Schlussanstieg auf dem Passo Fedaia mit einer durchschnittlichen Steigung von 7,6 Prozent dürfte zum Scharfrichter werden.
Durchgerüttelt werden könnte das Klassement noch mit dem Zeitfahren auf der Schlussetappe. Bis dahin will Buchmann einen gewissen Vorsprung auf seine Konkurrenten, die in der Regel im Kampf gegen die Uhr besser unterwegs sind, herausgefahren haben. Und selbst wenn es in diesem Jahr wieder nicht mit Platz eins, zwei oder drei klappt, würde der deutsche Star seine großen Ambitionen nicht über Bord werfen. „Normalerweise sagt man, dass man bis 32, 33 im besten Alter ist, um aufs Gesamtklassement zu fahren", sagte Buchmann der Schwäbischen Zeitung: „Ich habe also schon noch ein paar Jahre übrig."