Der Sommer ist die Zeit der Festivals – von Klassik über Rock bis hin zu Elektro-Sounds. Liebhaber barocker Musik zieht es jetzt zu den Händel-Festspielen in Halle, sie feiern in diesem Jahr ihr hundertjähriges Bestehen.
Viele der Festspiel-Besucherinnen und -besucher steuern als Erstes womöglich auf das Händel-Haus zu, dem stattlichen Gebäude, das im 16. Jahrhundert erstmalig urkundlich als „Ratslehen" erwähnt wurde. In diesem Haus wurde Georg Friedrich Händel am 5. März 1685 als Sohn einer lutherischen Pfarrerstochter und eines wohlhabenden Arztes geboren.
Das Händel-Denkmal auf dem historischen Marktplatz, von dem der Komponist auf seine Stadt schaut, ist sicherlich ihr nächstes Ziel. Dort beginnen am 27. Mai mit einer musikalisch untermalten Feierstunde die Händel-Festspiele. Um 17 Uhr werden sie ganz in der Nähe am spätgotischen Roten Turm mit Europas größtem Glockenspiel eingeläutet.
Zur festlichen Eröffnung am Abend in der Oper Halle wird dann Händels Oper „Orlando" gespielt. In der kommenden Woche wird FORUM über die Aufführung in Halle berichten, die Oper wird unter anderem nochmals am 4. Juni aufgeführt, einige Tickets sind für Kurzentschlossene noch erhältlich. Ein weiteres Highlight gleich zu Beginn der Festspiele: Händels „Messias" am 28. Mai im Dom zu Halle.
Festliche Eröffnung mit Feierstunde und der Oper „Orlando"
Warum aber wird Händel erst seit hundert Jahren derartig gefeiert? Hätte dieser bedeutende Barockkomponist eine solche Ehrung nicht schon viel eher verdient, so die Frage an den Intendanten der Händel-Festspiele, Clemens Birnbaum. „Es hat in Halle vorher einige kurze Händelfeiern aus besonderen Anlass gegeben, beispielsweise 1859 zur Einweihung des Händel-Denkmals oder 1885 anlässlich Händels 200. Geburtstag. Doch jährliche Festspiele zu einem bestimmten Datum waren früher nicht üblich. Den Anfang machte 1920 Göttingen, Halle folgte 1922", erklärt Birnbaum. Und ergänzt: „Wir transferieren alle Veranstaltungsprogramme aus dem Jahr 1922 und übernehmen dabei teilweise auch die damalige Aufführungspraxis mit den entsprechend stark gekürzten Fassungen. Händels Oper ‚Orlando‘ war 1922 die erste Händel-Oper, die in der Geburtsstadt des Komponisten erklang." Die Rückbesinnung auf die sogenannte historische Aufführungspraxis habe sich aber erst um 1950/60 verbreitet durchgesetzt.
„Heutzutage wird Barockmusik zumeist mit Darmsaiten auf den Streichinstrumenten und in einer anderen Stimmtonhöhe gespielt. Dabei sind die Instrumente in der Regel auf Basis originaler Vorlagen, wie wir sie beispielsweise im Museum des Händel-Hauses zeigen, nachgebaut und keine Originale", erklärt Festspiel-Intendant Clemens Birnbaum.
Uraufgeführt wurde „Orlando" im Januar 1733 im King’s Theatre in London in italienischer Sprache, Händel war dort fünf Spielzeiten lang praktisch allein verantwortlich für die italienische Oper. Auch in Halle wird nun die Oper in italienischer Sprache zu hören sein – dazu gibt es deutsche Übertitel. Die Jahre am Londoner King’s Theater zeigen deutlich, dass der hochbegabte Händel nicht in Halle hängen geblieben ist. Nach einem Probejahr als Organist am Dom zog der damals erst siebzehnjährige Hallenser nach Hamburg, wo die Oper am Gänsemarkt als erste Bürgeroper eröffnet wurde. Dort wurde 1705 seine erste Oper „Almira" mit großem Erfolg uraufgeführt. „In Halle hätte er als Musiker nicht leben können", erläutert Festspielchef Birnbaum den Entschluss des jungen Komponisten. Doch auch Hamburg war für Händel nicht genug. Eine Oper musste nach damaligem Geschmack im italienischen Stil komponiert sein, und das wollte Händel vor Ort erlernen. „Viele deutsche Komponisten zog es aus diesem Grund nach Italien", unterstreicht Clemens Birnbaum.
So lebte Georg Friedrich Händel vom Herbst 1706 bis zum Frühjahr 1710 abwechselnd in Florenz, Venedig, Neapel und Rom. „Viva il caro Sassone! Es lebe der liebe Sachse!" jubelte das Publikum 1709 in Venedig, wo der inzwischen 24-jährige Händel alle mit der Oper „Agrippina" in seinen Bann zog, so schrieb es später der britische Händel-Biograf John Mainwaring. Denn ab 1712 lebte Händel in London, nannte sich George Frideric Handel und wurde 1727 britischer Staatsbürger.
Das Büchlein von Mainwaring gehört nun zu den besonderen Schätzen in der Ausstellung im Händel-Haus in Halle. „Es ist die erste Biografie überhaupt, die über einen Komponisten verfasst wurde", betont Clemens Birnbaum „Händel war ein ungemein fleißiger Komponist, zu seinen Werken zählen 42 Opern und 25 Oratorien", führt der Indendant weiter aus. Daher lassen sich bei den diesjährigen Festspielen außer „Orlando" noch vier weitere Händel-Opern teils mehrfach erleben. So „Ariodante", gespielt mit Marionetten im Goethe-Theater Bad Lauchstädt. Der Shuttlebus kann zum Ticket hinzugebucht werden. Dort ist am 10. und 11. Juni mit „Caio Fabbricio" eine Erstaufführung in der Neuzeit erlebbar, im Löwengebäude von Halles Universität am 8. Juni mit „Timur und Bayezid" sogar eine Welturaufführung.
Schon während seiner Italien-Jahre fanden auch Händels Oratorien großen Anklang, hatte doch Papst Clemens XI. genau wie sein Vorgänger die Darbietung von Opern, die generell als sittenlos galten, verboten. Händels Oratorien waren jedoch so lebendig, dass sie noch heutzutage oft als getarnte Opern eingestuft werden. „In einem Fall, nämlich beim Oratorium „Semele", rekonstruieren wir sogar die Klangwelt der 1920er-Jahre", sagt Festspiel-Intendant Clemens Birnbaum. „Es kommen also genau wie vor einhundert Jahren moderne Instrumente zum Einsatz. Man kannte ja nichts anderes. Die Sängerinnen und Sänger sowie der Chor werden auf Deutsch singen."
Ein imaginäres Treffen zwischen Händel und Bach
Insgesamt zeichnet sich die 100. Ausgabe der Händel-Festspiele in Halle dadurch aus, dass großartige Solistinnen und Solisten zu hören sein werden und zahlreiche Händel-Preisträgerinnen und -Preisträger ebenfalls mitwirken. In einem besonderen Festkonzert sind es sogar „Vier auf einen Streich", wie der Konzerttitel es nennt. Für Händels 1707 in Rom uraufgeführtes Oratorium „La Bellezza Ravveduta nel Trionfo del Tempo e del Disinganno" hatte der Kardinal Benedetto Pamphilij den Text geschrieben, am 5. Juni ist es in der Konzerthalle Ulrichskirche zu hören.
Der oft gestellten Frage, warum sich Händel und der ebenfalls 1685 geborene Johann Sebastian Bach nie getroffen hätten, geht das Festival ebenfalls nach. „Das Reisen in einer Kutsche nahm viel Zeit in Anspruch, war anstrengend und auch gefährlich. Dennoch hat Bach Händel sehr geschätzt, und der wohl auch ihn", vermutet Intendant Clemens Birnbaum. Das Treffen, das real nie stattfand, wird nun in Halle „nachgeholt" – es findet unter dem Motto „Händel: Ein imaginäres Treffen" am 7. Juni im Händel-Haus statt.
„Was sein Privatleben betraf, hat sich Händel, der Junggeselle blieb, äußerst bedeckt gehalten. Nur 46 Briefe von ihm sind bekannt, von denen sind lediglich 36 erhalten", sagt der Indendant Clemens Birnbaum. Unstimmigkeiten mit seiner Familie habe es jedoch nicht gegeben. Händel sei als reicher Mann gestorben und habe sein Vermögen nicht zuletzt auch an Mitglieder seiner Familie vererbt, zu denen er stets Kontakt behielt. Deren Gruft befindet sich auf dem durch Bürger-Engagement geretteten Friedhof, dem Stadtgottesacker, der ebenfalls einen Besuch verdient.